Süddeutsche Zeitung

Fall Caster Semenya:Das Dritte Geschlecht ist Realität im Sport

Der Fall Caster Semenya zeigt: Der Sport muss mehr über Intersexualität debattieren - und endlich handeln. Das Dritte Geschlecht sitzt nicht nur auf den Besucher-Tribünen.

Kommentar von Barbara Klimke

Der Fußball, ausgerechnet, setzte sich kürzlich an die Spitze der Avantgarde: Beim DFB-Länderspiel der Männer im März gegen Serbien (1:1) wurden an die Toilettentüren der Wolfsburger Arena Unisex-Schilder gepinnt. Den Besuchern ein "genderneutrales Stadionerlebnis" anzubieten, war löblich, aber nur der erste Schritt. Der zweite muss darin bestehen, das Thema gewissermaßen vom Klosett auf die Kampfbahn zu übertragen. Denn bei hochfliegenden Visionen hat sich der Fußball bislang noch immer auf die bodenständigste Realitätsprüfung verlassen können: Die Wahrheit liegt auf dem Platz.

Das Erstaunliche an der Debatte über Intersexualität, über fließende Grenzen zwischen den Geschlechtern, über die Unmöglichkeit, eindeutige Zuordnungen zu treffen, ist der Fakt, dass sie im Sport bisher kaum stattgefunden hat; sieht man vom Streichen zweier Buchstaben (F und M) auf Wolfsburger Türschildern ab. Dabei ist der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, das im November 2017 über das Dritte Geschlecht entschied, selbstverständlich auch an den Sport gegangen. Der Rest der Gesellschaft ist mittlerweile schon so sensibilisiert, dass er nicht einmal die Faschingsscherze der CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer zum Thema in der Bütt toleriert.

Nun mag niemand die dringliche Notwendigkeit gesehen haben, gleich bei nächster Gelegenheit drei 100-Meter-Europameister zu küren: etwa in den Kategorien M, F und Divers. Aber der Einspruch der südafrikanischen Mittelstreckenläuferin Caster Semenya gegen eine diskriminierende Hormonbehandlung ist über Monate vor dem Sportschiedsgericht Cas anhängig gewesen.

Keine gute Idee, auf den nächsten Einzelfall zu warten

Gerade weil dies eine komplizierte Lage beispielhaft verdeutlichte und weltweit für Aufmerksamkeit sorgte, wäre es wünschenswert gewesen, Klubs und Verbände, Ausschüsse und sonstige Gremien hätten sich auch hierzulande öffentlich mehr Gedanken darüber gemacht, wie sie in ihrem jeweiligen Sprengel mit einem ähnlichen Fall umgegangen wären. Stattdessen wurde das Cas-Urteil abgewartet, das den Zwang zur Senkung eines natürlichen, überdurchschnittlich hohen Testosteronwerts vor Rennen rechtlich gestattet. Obwohl von vornherein an klar war, dass auch dies nur eine Einzelfallprüfung ist.

Für solche Grundsatzdebatten wäre die Leichtathletik besser geeignet als die meisten Sportarten. Denn in den Laufdisziplinen präsentiert sich Semenyas Problem wie in einer klassischen Versuchsanordnung: Strecke, Zeit und ein Körper, der sich vom Start aufs Ziel zubewegt. Mehr als diese drei Komponenten sind nicht in Erwägung zu ziehen; keine Hürdentechnik, keine Pirouette, die auf das Leistungsbild einwirken. Wenn also Handlungsbedarf bestände, etwa durch die Einführung unterschiedlicher Klassen, wie aus gutem Grund in Kampf- und Kraftsportarten üblich, dann hier.

Wenn - denn vielleicht setzt sich die Überzeugung durch, alles bleibt besser beim Alten. Nur ist es keine gute Idee, auf den nächsten Einzelfall zu warten. Das Dritte Geschlecht ist Realität im Sport. Und es sitzt nicht nur auf der Tribüne.

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SZ vom 03.05.2019/ebc
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