Der dänische Fußballtrainer Mike Tullberg hat am Donnerstag eine Mannschaft übernommen, die körperlich und geistig in einer Nicht-Verfassung ist; die nicht verteidigen kann, aber angreifen kann sie auch nicht. Das hat – wörtlich – Matthias Sammer so gesagt. Der 57-Jährige ist offizieller Berater und somit intimer Kenner von Borussia Dortmund, und aus solch berufenem Munde ist das ein schlimmes Zeugnis für eine Mannschaft. Kurz nach diesem vernichtenden Urteil im Zug einer 1:2-Niederlage beim FC Bologna hat der BVB angesichts von vier Pflichtspielniederlagen hintereinander seinen Trainer Nuri Sahin freigestellt.
Mindestens für das Bundesligaspiel am Wochenende gegen Werder Bremen übernimmt dieses Amt nun jener Tullberg, der seit viereinhalb Jahren Trainer der Dortmunder A-Jugend ist und die Junioren dreimal nacheinander ins Endspiel um die deutsche Meisterschaft geführt hat. Gewonnen haben sie 2022 gegen Hertha BSC, danach gab es zwei Niederlagen gegen Mainz und Hoffenheim.
Kollektive Nicht-Verfassung, kein Angriff und auch keine Verteidigung? Steht es wirklich so schlimm um die Borussia? Dazu hat Tullberg erwartungsgemäß diese Meinung: „Diese Mannschaft kann das Fußballspielen nicht verlernt haben.“
Tullberg wohnt im benachbarten Essen und hätte sich eigentlich ab Mittwoch in ein Dortmunder Hotel einmieten wollen, um sich ungestört von Frau und Kindern auf das Spiel vorzubereiten. Doch dann hat er auf dem Vereinsgelände im Nordwesten der Stadt derart viele Gespräche geführt, dass er es erst spätabends wieder verließ und spontan entschied, über die nun leere A40 auch heimfahren zu können. „Ich habe eine nette Frau und drei nette Kinder“, sagt er lächelnd, und das ist auch eine Form der Beruhigung für einen 39-Jährigen, der zwar schon lange im Fußballgeschäft tätig ist, aber noch in keinem Spiel derart im Rampenlicht gestanden hat.
Tullbergs eigene Spielerkarriere von 2006 bis 2011 war, vor allem aufgrund von Verletzungen, überschaubar: zwölf Mal dänische Superliga für Aarhus, sieben Mal schottische erste Liga für Heart of Midlothian, fünf Mal Serie A für Reggina und vier Mal zweite Liga für Rot-Weiß Oberhausen. Mit 26 Jahren wurde er bereits Trainer: erst Assistent beim Amateurklub SG Schönebeck in Essen, dann A-Jugend-Trainer in Oberhausen und ab 2019 bei Borussia Dortmund; zunächst Trainer der zweiten Mannschaft, dann Trainer der A-Jugend.
Interesse in der Branche weckte der am Spielfeldrand höchst emotional auftretende Tullberg immer mal wieder, Gerüchten zufolge etwa bei Eintracht Frankfurt, beim 1. FC Nürnberg oder zuletzt beim norwegischen Spitzenklub Brann Bergen. Warum er trotzdem nie aus Dortmund weg ist? „Weil ich mich hier wohlfühle“, sagte er am Freitag auf der Pressekonferenz vor dem Bremen-Spiel. Über mögliche größere Perspektiven beim BVB, über denkbare Versprechungen, die ihn dort haben bleiben lassen, mochte er aber nicht sprechen. „Ich habe jetzt die klare Aufgabe, die Mannschaft bis Samstag zu betreuen“, sagte er, und über seinen Vorgesetzten: „Ich habe von Lars Ricken die klare Aufgabe erhalten zu versuchen, dieses Spiel zu gewinnen.“
„Fußball ist das Allerwichtigste, was nicht wichtig ist“: Reflektieren kann Mike Tullberg schon mal
Als Dauerlösung scheidet Tullberg offenbar aus. Der BVB sucht, gerade nach dem Intermezzo mit dem 36 Jahre jungen Sahin, erst mal einen erfahrenen Trainer. Der Kandidat Urs Fischer (zuletzt Union Berlin) gilt als interessant und interessiert. Mit dem Kandidaten Niko Kovac (zuletzt VfL Wolfsburg) gab es angeblich noch keinen Kontakt. Der Kandidat Erik ten Hag ist zwar verfügbar, steht aber offiziell noch unter Vertrag bei Manchester United und würde viel Geld kosten. Der Kandidat Roger Schmidt (zuletzt Benfica Lissabon) will bis zum Sommer pausieren. Der Kandidat Sandro Wagner will erstmal Co-Trainer von Bundestrainer Julian Nagelsmann bleiben. Der Kandidat Joachim Löw (zuletzt Bundestrainer) wurde exklusiv von Lothar Matthäus ins Spiel gebracht. Und der Kandidat Bo Svensson ist wohl gar kein Kandidat.
Borussias Sportdirektor Sebastian Kehl behauptete am Donnerstag glatt: „Wir wollen nicht in Aktionismus verfallen.“ Aber muss man das glauben? Der BVB verfällt gerade recht heftig in Aktionismus – und das sollte er auch.
Tullberg hat für seine womöglich nur dreitägige Regentschaft wenige, aber dafür umso klarere Ziele: „Energie in die Mannschaft bekommen und den Spielern Mut zusprechen.“ Er wolle im Spiel gegen den Ball mutige Fußballer sehen, die sich nicht abwartend verhalten. Die zuletzt allzu verhaltene Herangehensweise der BVB-Spieler stellt er sich idealerweise so vor: „Im Vollsprint mit Sabber im Mund und Messer zwischen den Zähnen.“
Über den Fußball, der neben der Familie die ganz große Leidenschaft seines Lebens ist, sagt Tullberg verschmitzt: „Fußball ist das Allerwichtigste, was nicht wichtig ist.“ Mit diesem schönen Aphorismus, auf den er nun die Urheberschaft beansprucht, gefällt er auch einem der wichtigsten Männer im Klub: dem Sportgeschäftsführer Ricken, der erst seit einem halben Jahr im Amt ist und vorher als Chef der Nachwuchsabteilung eng mit Tullberg zusammengearbeitet hat. Ein paar junge Bundesligaspieler, die durch Rickens und Tullbergs Abteilung gingen: Jamie Gittens (BVB), Nnamdi Collins (Eintracht Frankfurt), Colin Kleine-Bekel (Holstein Kiel) oder Tom Rothe (Union Berlin). Ricken hält sehr viel von Tullberg, der nach den jüngsten Misserfolgen des BVB ausgerechnet diese Hoffnung an die verzweifelten Spieler formuliert: „Sie dürfen den Spaß nicht verlieren!“ Auf diesen Aphorismus besitzt er gewiss kein Patent, aber was soll's, passen tut er trotzdem.