Zumindest eine Frage haben sie bei Borussia Dortmund schon lange vor der neuen Fußballsaison geklärt: die nach der Meisterschaft. Die Antwort lautet diesen Sommer: Ja, der BVB traut sich diesmal kollektiv, vom Vorstandschef bis zum Platzwart, Ambitionen auf den Bundesligatitel einzugestehen. Mehr noch, sie werden geradezu zum Fenster hinausgerufen. Sebastian Kehl, Leiter der Lizenzspieler beim BVB, spricht vor dem ersten Aufeinandertreffen mit dem amtierenden Meister FC Bayern an diesem Samstagabend im Supercup sogar von "einer besonderen Konstellation zwischen den beiden Vereinen". Alle würden schließlich "danach lechzen", endlich mal ganz offiziell zum Titelkampf anzutreten. Gegen die Bayern - gegen wen denn sonst?
Den Verweigerungswettkampf der vergangenen Saison haben die Dortmunder im Nachhinein als großen Fehler ausgemacht. Im Spätherbst und Frühjahr war Dortmund dem hohen Favoriten wochenlang um neun, einmal sogar um elf Punkte enteilt gewesen. Aber während Bayern-Trainer Niko Kovac selbst da noch die Parole ausgab, man werde natürlich noch am BVB vorbeiziehen, wanden sich die Schwarzgelben im Ruhrpott, um bloß nicht zuzugeben, dass man als souveräner Tabellenführer auch Meister werden wolle. Das nahm bisweilen groteske Züge an, vor allem weil sich Dortmunds Trainer Lucien Favre mit allen Gliedmaßen gegen den Verdacht sträubte, die Sache nun auch zu Ende bringen zu wollen. Und kein Dortmunder wollte dem zaudernden Übungsleiter in den Rücken fallen mit der offenherzigen Formulierung eines realistischeren neuen Saisonziels.
Um die 100 Millionen Euro hat Dortmund ausgegeben
Im Sommer 2019 hört sich das ganz anders an. Selbst einer wie Zugang Nico Schulz (aus Hoffenheim) spricht frei von der Leber weg: "Dortmund hat letzte Saison die Meisterschaft um zwei Punkte verpasst. Da ist doch klar, dass der nächste Schritt nun der Titel sein sollte." Geschäftsführer Watzke, Sportdirektor Michael Zorc und Mannschaftskapitän Marco Reus bestätigen gerne: Dieses Mal wird es keinen Slalom mehr geben um Töpfe mit heißem Brei. Das Saisonziel ist klar formuliert. Ob man auch Favre schon voll auf diesen Kurs eingeschworen hat, ist noch unerforscht.
Am Donnerstagabend sagte der Trainer zum Saisonziel Meisterschaft: "Ich verstehe das, und ich gehe da mit." Der Schweizer Favre, ein Freund der leisen Töne, ergänzte aber auch: "Wir müssen aufpassen, was wir sagen. Wir müssen analysieren und nicht so viel sprechen."
Die Laune beim BVB jedenfalls ist auch nach der obligaten Werbe-Tingeltour, diesmal durch die USA, und nach dem Trainingscamp in Bad Ragaz/Schweiz nicht abgeflaut. Die präzise Einkaufstour des Frühsommers belegt eine straffe Linie. Um die 100 Millionen Euro hat Dortmund ausgegeben. Und wer binnen vier Wochen Mats Hummels, Julian Brandt, Thorgan Hazard und Nico Schulz verpflichtet, kann nicht mehr zurückrudern beim Saisonziel. Der BVB hat aber auch selbst hohe Transfererlöse erzielt, allein mehr als 60 Millionen Euro für Christian Pulisic (zum FC Chelsea).
Im Supercup werden die Zugänge Brandt (Leverkusen) und Hazard (Gladbach) sowie Stammtorwart Roman Bürki nicht mitmischen können, doch deren Zipperlein dürften bald behoben sein. Auch Hummels fällt laut Bild aus. Er soll angeschlagen sein und werde geschont. In der Vorbereitung zeigten alle vier Neuen keine Eingewöhnungsprobleme. Vor allem bei Hummels, der nach drei Jahren in München zurückgekehrt ist, verwundert das niemanden. BVB-Boss Watzke bedankte sich erst dieser Tage öffentlich und artig, aber auch mit einem Schmunzeln beim Münchner Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge für die "unproblematische Freigabe" von Hummels. Dortmund hatte seinen langjährigen Abwehrmann Hummels in dessen Bayern-Phase nie richtig ersetzen können. "Wir hätten ihn jederzeit zurückgenommen. Mats wusste immer, dass wir ihn zurückhaben wollen", sagt Watzke.
Hummels, mit den Bayern dreimal in Serie Meister geworden und zuletzt zum besten zentralen Abwehrmann der Saison gewählt, dürfte Dortmunds größte Sollbruchstelle reparieren können: die wackelnde Innenverteidigung. Dass die gesamte Zentralachse beim BVB nun aus drei 30-Jährigen besteht, aus Hummels, dem Sechser Axel Witsel und Marco Reus davor, mutet angesichts der Jugendlichkeit des Dortmunder Images fast seltsam an. Aber Meister wird man in den seltensten Fällen ohne die Abgeklärtheit von erfahrenen Profis.
Vor der Achse ist eigentlich Mario Götze eingeplant. Aber kaum hat sich der 27-Jährige in der vergangenen Rückrunde endlich wieder auf einem ansprechenden Niveau präsentiert - erstmals seit seinem WM-Finaltor 2014 gegen Argentinien -, wackelt mal wieder was: Götzes Vertrag in Dortmund läuft nur noch elf Monate, der Verein fühlt sich branchenüblich in Zugzwang. Ein Jahr vor Vertragsende wird verlängert oder verkauft - alles kein Problem, versichern beide Seiten. Götze weiß, dass er in Dortmund offenbar besser funktioniert als bei anderen Klubs. Sein Stellenwert ist auch nicht mehr so, wie er vor fünf, sechs Jahren war. Dumm nur, dass der Klub Götzes Gehalt von angeblich weltstargerechten zehn Millionen Euro anpassen will an sein aktuelles Leistungsbild. Heißt: Götze soll 20 Prozent weniger verdienen.
Als taktischer Mittelstürmer ist er Trainer Favre inzwischen ans Herz gewachsen. Spielerisch und technisch macht Götze auch niemand aus dem BVB-Kader etwas vor. Seine Dynamik und Schnelligkeit aber sind nicht auf höchstem Level. Trotzdem dürfte Götze bei Favre gesetzt sein, weil der einzige wirkliche Mittelstürmer in Dortmund, der Spanier Paco Alcácer, zwar ein schlitzohriger Knipser sein kann, aber sich für Favres Spielphilosophie noch immer nicht genug am Laufspiel und den Verwirrungsattacken des BVB beteiligt - im Gegensatz zu Götze, der mit die meiste Laufarbeit beim BVB leistet und ein taktisches Wunderkind geblieben ist.
Stabilität geht im Zweifel über Kreativität
Götze wird auch deshalb gute Karten im Vertragspoker haben, weil sie in Dortmund weiterhin nach hauseigenen Identifikationsfiguren schauen. Reus, Hummels, Götze, Lukasz Piszczek, auch der zuletzt etwas ins Hintertreffen geratene Ex-Kapitän Marcel Schmelzer - das sind Typen, die im seltsam wabernden Profigeschäft den Mehrwert haben, dass man ihnen einen Tropfen mehr Herzblut für den Klub abnimmt. Das gilt auch mannschaftsintern. Auch die jungen Nationalspieler Brandt, ursprünglich Bremer, oder Schulz, gebürtiger Berliner, wurden für eine wieder stärkere Erdung des BVB-Kaders geholt. Junge Karriere-Durchreisende wie Verteidiger Achraf Hakimi oder Dribbelkünstler Jadon Sancho brauchen solch ein stabiles Gerüst - so jedenfalls die Theorie in Dortmund.
Favre kann jenseits gruppendynamischer Überlegungen fast schon paradiesisch wählen aus einem noch dichteren Kader. Er muss überlegen, ob er weiterhin überwiegend mit angezogener Handbremse in einem 4-2-3-1-System operiert, mit zwei defensiven Mittelfeldspielern, oder ob er auf nur einen Defensivsechser wie Witsel umschwenkt, also auf ein 4-1-4-1. Da Favre ohne echten Stoßstürmer spielt, scharen sich in seinem Team intelligente Universalisten. Das liebt Favre, aber zugleich geht Stabilität im Zweifel über Kreativität. Man sagt bekanntlich, dass dies die Mutter aller Titelgewinne sei.