Süddeutsche Zeitung

BVB-Sieg gegen Schalke:Welle vor der leeren Wand

Borussia Dortmund hat aus dem frustrierenden Geisterspiel gegen Paris Saint-Germain gelernt und gewinnt das Derby gegen Schalke mit 4:0. Nach Schlusspfiff kommt es zu einer schönen Geste.

Von Milan Pavlovic

Ein einzelnes Klatschen schallte laut durch das riesige Stadion, als sich die Dortmunder Mannschaft kurz nach dem Schlusspfiff auf den Weg zur Südtribüne machte. Dort, wo die berühmt-berüchtigte gelbe Wand steht, die normalerweise von 24 000 BVB-Fans gefüllt wird, war an diesem Nachmittag aus den bekannten Gründen nicht ein Zuschauer. Die Spieler visierten dennoch die Kurve an, in gebührendem Abstand zueinander, die Ausgewechselten schon mit Mund/Nase-Schutz, und machten in einer schönen symbolischen Geste vor den abwesenden Fans die Welle. Es war der passende Schlusspunkt für das 4:0 (2:0) gegen den ewigen Ruhrpottrivalen Schalke 04, der höchste Heimsieg im direkten Vergleich seit einem 6:2 vor 54 Jahren.

Gerädert, aber beglückt, sagte der überragende Spielgestalter Julian Brandt: Der Weg in die Kurve "war eine spontane Aktion. Ich hatte nicht mehr die Kraft mitzugehen. Aber die Jungs haben mich würdig vertreten", fügte er hinzu. Man konnte sein Lächeln sehen, weil er keine Maske trug. Was den Dortmundern geholfen habe, sei die Erfahrung des frustrierenden Geisterspiels in der Champions League in Paris gewesen (0:2). "Daraus haben wir gelernt. Wir müssen uns der Situation anpassen und versuchen, ein bisschen Spaß zu haben." Das gelang den Borussen. Fand auch Lucien Favre: "4:0 gegen Schalke, das ist ganz ok." Obwohl, zufrieden war der Schweizer Trainer sogar an diesem Samstag nicht: "Es ist schwer, zu beurteilen, wie gut das Spiel war. Ich hatte das Gefühl, das war nicht so engagiert wie geplant." Brandt deutete das anders: "Am Ende wurde es dann ein bisschen weniger, weil die Kräfte nachgelassen haben. Da hat man die letzten sieben, acht, neun Wochen auch gemerkt."

Schon einmal fand das derbyigste aller Derbys direkt nach einem Ereignis statt, auf welches das Wort Weltkatastrophe wirklich passt. Es war am Wochenende nach dem 11. September 2001. Damals standen die westfälischen Rivalen im Anstoßkreis mit frommen Blicken und händchenhaltend, was diesmal natürlich streng verboten war. Das Spiel selbst war damals knüppelhart, von friedfertigen Zeichen war rein gar nichts zu sehen; und zu hören waren vor allem die Schmerzensschreie, wenn es beim Schalker 1:0-Erfolg den nächsten getroffen hatte.

Dortmund verdaut die personellen Probleme erstklassig

Auch diesmal sprach einiges für die Gäste; zunächst aus psychologischer Warte, denn an den beiden vergangenen Duellen im Westfalenstadion haben die Dortmunder immer noch zu knabbern - zwei schallende, historische Niederlagen, auch wenn sie nur eines verloren: Im Herbst 2017 reichte es nach 4:0-Führung (und Riesenchance zum 5:0) bekanntlich nur zu einem 4:4. Und das 2:4 im Frühjahr 2019 kostete die Borussia letztlich die Meisterschaft. Bis heute ist es die einzige Heimniederlage von Lucien Favre als BVB-Trainer. Die vergangenen Heimsiege gegen die Königsblauen stammten aus dem Jahr 2015, als der entfesselte Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang eine Spider-Man-Maske überstülpte.

Und auch personell neigte sich die Waage scheinbar Richtung Schalke: Bei den im Winter noch schwer gebeutelten Knappen hatten sich nacheinander Sané, Serdar und Caligiuri fit gemeldet - drei Spieler, die man in dieser Saison nicht mehr im Kader erwartet hatte. Beim BVB musste nicht nur das markante Mittelfeld-Duo Witsel/Can ersetzt werden, sondern Jadon Sancho und kurzfristig noch dessen Ersatz Giovanni Reyna. Die stattdessen auflaufenden Delaney/Dahoud und Hazard sollten von sich reden machen.

Denn nach 27 Minuten, die man früher als Abtastphase umschrieben hätte, nutzte Dortmund gleich seine erste echte Chance. Brandt öffnete den Raum, indem er per Hacke auf Hazard weiterleitete, der flott in die Mitte spielte, wo Sturmtank Erling Haaland sich freigelümmelt hatte und wie ein echter Mittelstürmer ohne Zögern zum 1:0 abschloss (28.) - weil bis dahin niemand sonst in der Bundesliga getroffen hatte, war es zugleich das erste Liga-Tor seit neun Wochen. Die Entstehung des Tors verhöhnte übrigens die Orakelei vieler Beobachter, die behauptet hatten, die Mannschaften müssten nach der langen Pause sich und die Laufwege erst wiederfinden.

Das betraf an diesem Nachmittag nur die Gäste. Ein unsachgemäßer Klärungsversuch von Schalkes Torwart Markus Schubert wurde kurz vor der Pause zum Bumerang, da der präzise Dortmunder Gegenangriff über Dahoud und Brandt links vorne bei Guerreiro landete, der nach kurzem Sprint mit links ins entfernte Toreck zum 2:0 abschloss (44.). Nach dem Wechsel durften es Burgstaller und Matondo als Schalker Spitzen probieren, aber sie blieben so harmlos wie der Schussversuch von Serdar aus zentraler Position (47.).

Auf der anderen Seite ging es Sekunden später wieder schnell, zu schnell für die Schalker. Nach einem Dortmunder Ballgewinn am eigenen Strafraum gegen den tändelnden Caligiuri landete die Kugel an der Mittellinie bei Haaland, der im richtigen Moment auf Brandt weiterleitete, der wie ein Terminator einmal die Lage scannte, dann präzise Hazard bediente, dessen nicht gerade platzierter Schuss zum 3:0 ein weiteres Schalker Problem verdeutlichte: Ein guter Schlussmann hätte den Ball ohne große Mühe pariert.

Auch danach versuchte Schalke weiter so etwas wie Torgefahr zu entwickeln, eine noble Haltung bei 0:3-Rückstand, aber wirklich gefährlich wurde es dadurch nur für das eigene Tor. Nach einem schnurgeraden Angriff über Brandt und Guerreiro landete der Ball nach einem Doppelpass mit Haaland wieder beim Portugiesen, der dank des "social distancing" der Schalker plötzlich völlig verwaist vor Schubert stand. Was würde Guerreiro machen? Er entschied sich für die spektakulärste Option: einen Außenristkunstschuss gegen den eigenen Lauf, am verdutzten Keeper vorbei, der vielleicht froh war, endlich mal gänzlich schuldlos zu sein.

Das 4:0 war das 31. Rückrundentor des BVB, der damit in neun Partien fast achtmal so oft getroffen hat wie der FC Schalke, der seit dem 18. Spieltag (2:0 gegen Gladbach) nicht mehr gewonnen hat. In Dortmund wechselte David Wagner als erster Bundesliga-Trainer fünf Profis aus - er wäre vermutlich froh gewesen, wenn er alle elf hätte austauschen dürfen.

Vielleicht mögen ein paar Gästespieler gehofft haben, dass das Debakel jenseits des Stadions von ähnlich wenigen Menschen registriert wurde wie innen drin. Das Gegenteil war wohl der Fall: Die halbe Sportwelt dürfte zugesehen haben. Wenigstens.

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Quelle:
SZ vom 17.05.2020/sonn
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