Aus berechtigtem Grund wird Borussia Dortmunds Trainer Edin Terzic seit Wochen immer wieder nach Zielen und Ambitionen gefragt. Seine Mannschaft gewinnt Spiel um Spiel und macht dem Serienmeister Bayern München zunehmend den Titel streitig. Terzic aber äußert sich stets abwehrend und verschleiernd. Er spricht oft von "Demut" und nie vom Titel. Eigentlich traut sich schon niemand mehr so richtig, ihn nach seinen Zielen und Träumen zu fragen, doch am Freitagabend, nach Dortmunds 2:1-Sieg gegen RB Leipzig, nach dem zehnten Pflichtspielsieg in Serie und dem vorübergehenden Sprung an die Bundesliga-Spitze, hat es noch einmal jemand versucht. Und zwar nicht irgendwer.
Auf der Pressekonferenz nach dem Spiel saß dieser Fragesteller allerdings nicht unten bei den Journalisten im Auditorium, sondern oben auf dem Podium neben Terzic. Der Fragesteller hieß Marco Rose und war der Trainer von RB Leipzig. Rose war selbst gefragt worden, was Leipzigs nunmehr sieben Punkte Rückstand auf Dortmund wohl zu bedeuten hätten, wo man doch ähnliche Ziele wie Dortmund verfolge. Und mit dieser Frage wandte sich Rose hilfesuchend an seinen Dortmunder Kollegen und bat um dessen Einschätzung. "Ich weiß gar nicht, welche Zielstellung hat denn Dortmund konkret, Edin?", fragte Rose. Terzic antwortete: "Beide Vereine kämpfen um die Champions League, wollen im DFB-Pokal erfolgreich sein und freuen sich, wenn sie in der Champions League eine Runde weiterkommen." Terzic verzichtete auf den Begriff "Demut", aber von der Meisterschaft sprach er wieder nicht. Daran änderte auch der achte Bundesliga-Sieg in Serie nichts.
Der Erfolg gegen Leipzig durch die Treffer von Marco Reus (21., Foulelfmeter) und Emre Can (39.) bei einem Gegentreffer durch Emil Forsberg (74.) war Dortmunds erfolgreicher Auftakt in drei bedeutsame Spiele, die Terzic als "bislang wichtigste Woche in dieser Saison" bezeichnet. Diese wegweisende Woche geht am Dienstag beim FC Chelsea weiter und endet nächsten Samstag beim FC Schalke 04. Beiden kommenden Gegnern dürfte die Dortmunder Leistung vom Freitagabend imponiert haben - zumindest jene aus der ersten Halbzeit, als der BVB die Leipziger regelrecht herspielte und noch höher hätte führen können als 2:0.
Kobel zerrt sich beim Aufwärmen den Oberschenkel
Nach der Pause tauschten die Teams allerdings die Rollen, mit dem Unterschied, dass die Leipziger ihre Torchancen beinahe alle vergaben. Forsbergs Treffer genügte nicht zum eigentlich verdienten Unentschieden. Leipzig scheiterte auch mehrfach am Dortmunder Ersatztorwart Alexander Meyer, der erst fünf Minuten vor Spielbeginn von seinem Einsatz erfahren hatte, weil sich der Stammtorwart Gregor Kobel beim Aufwärmen den Oberschenkel zerrte. Minutenlang fieberte Dortmunds Trainerteam darüber, ob sie Kobel dennoch einsetzen sollten, doch sie scheuten das Risiko mit Blick aufs Champions-League-Spiel am Dienstag in London. Der Sieg und Meyers Leistung gaben ihnen später Recht. Jetzt versuchen sie, Kobel bis Dienstag wieder herzustellen.
Bis zur 72. Minute spielte die Dortmunder Mannschaft gegen Leipzig so ziemlich wie aus einem Guss. Personelle Wechsel drängten sich nicht auf und wären auch nicht nötig gewesen, allerdings muss ein Trainer an die Belastung seiner Spieler denken, wenn sie vier Tage später in London anzutreten haben. Deshalb entschied sich Terzic in der 72. Minute für zwei Wechsel: Anthony Modeste und Jamie Bynoe-Gittens kamen für Sebastien Haller und Marco Reus. Zufall oder nicht: Zwei Minuten später fiel Leipzigs Anschlusstreffer zum 1:2.
Reus zieht in der ewigen BVB-Torjägerliste mit Michael Zorc gleich
Fortan flogen den Dortmundern die Leipziger Torschüsse nur so um die Ohren, doch am Ende verteidigte der BVB zu zehnt in einer tiefen 5-4-1-Formation und hatte das Glück des Tüchtigen. Einen Schuss des eingewechselten Timo Werner wehrte Nico Schlotterbeck kurz vor der Torlinie mit dem Schultereckgelenk ab, eine Volley-Abnahme von Forsberg wurde von Meyer soeben noch pariert. "Wir mussten zittern, aber dieses Glück erarbeiten wir uns derzeit hart", bilanzierte Reus, der mit seinem 1:0-Treffer zum Zweitplatzierten der ewigen BVB-Torschützenliste, Michael Zorc, aufschloss. Beide kommen auf 159 Pflichtspiel-Tore. Reus hat in dieser Liste jetzt nur noch Adi Preißler (177 Tore in den Vierziger und Fünfziger Jahren) vor sich.
Das Spiel gegen Leipzig war unabhängig vom Ausgang ein derart famoses Erlebnis, dass jeder, der sich eine baldige Wiederholung wünscht, jubeln darf: Am 5. April treffen die beiden Klubs in Leipzig im DFB-Pokal-Viertelfinale erneut aufeinander. Vier Tage zuvor, am 1. April, gastieren die Dortmunder samstagabends zum Bundesliga-Spitzenspiel beim FC Bayern. Wenn der BVB-Bus kommt, ist der Zirkus in der Stadt. "Dortmund hat einen Lauf", lautete am Freitagabend ein Lob aus berufenem Munde, nämlich jenem des Leipziger Torschützen Forsberg. Er schwärmte von der "unglaublichen Qualität" des BVB.
Ob Leipzig selbst noch mal in die Herausforderer-Rolle schlüpfen kann, ist hingegen ungewiss. Sie haben in den jüngsten Spitzenspielen weder gegen die Bayern (1:1) noch gegen Union Berlin (1:2) und Dortmund (1:2) gewinnen können und den Anschluss an die Tabellenspitze verloren. Nur gegen Frankfurt war RB erfolgreich (2:1). "Fakt ist, dass wir uns jetzt alles von ein bisschen weiter hinten angucken", sagt Rose. Resignation wollte er aber keine erkennen lassen: "Unsere Ambitionen bleiben groß." Nach einem Heimspiel gegen Gladbach kommenden Samstag versuchen die Leipziger am übernächsten Dienstag, bei Manchester City ins Viertelfinale der Champions League einzuziehen.