Patrick Owomoyela hatte keine Chance. Mit kräftigen Armschwüngen stapfte er seine Krücken in den Rasen des Olympiastadions, legte schnell einige Meter zurück, musste schließlich trotzdem kapitulieren. Seine Mitspieler thronten bereits viele Meter über ihm - unerreichbar für einen verletzten Krückenmann wie Owomoyela.
Die Dortmunder Pokalsieger hatten längst das Marathontor geentert, jene gigantische Treppe, die sich im Osten des Berliner Olympiastadions erhebt. Dort hüpften die Spieler auf und ab, gröhlten mit den Fans, noch weiter oben, auf den obersten Stufen, legte Robert Lewandowski derweil eine gigantische BVB-Fahne aus. Der polnische Stümer hatte zuvor drei Tore geschossen, in einem denkwürdigen Pokalfinale von Berlin, das 5:2 endete. Für Borussia Dortmund. Gegen den FC Bayern.
Nach dem Intermezzo auf der Treppe folgten die üblichen Feierlichkeiten. Bundespräsident Joachim Gauck überreichte erstmals den großen, goldenen Pokal, BVB-Kapitän Sebastian Kehl reckte ihn in die Luft, Konfetti sprühte, wohin man sah. Und Jürgen Klopp, Dortmunds stets so blendend gelaunter Trainer, wurde gar staatstragend. "Ich bin sprachlos. Das ist heute Abend nicht zu begreifen, was hier passiert ist", sagte Klopp, "weil das die außergewöhnlichste Leistung ist, die ich jemals von einer Mannschaft im Fußball gesehen habe."
Nicht minder pathetisch wurde ein Fan mitten in der Nacht am Berliner U-Bahnhof Wilmersdorfer Straße. "Fünf Mal, fünf Mal haben wir sie jetzt geschlagen", platzte es aus ihm heraus, der Mann spreizte deutlich alle Finger von seiner linken Hand ab: "Früher hätten wir über ein Unentschieden jahrelang geredet. Und jetzt das!" Dann schüttelte er den Kopf.
Das 5:2 der Dortmunder am Freitagabend hatte die neuen Kräfteverhältnisse in der Bundesliga noch einmal herausgearbeitet - und das nicht nur, weil es ein Pokalfinale war. Tatsächlich zum fünften Mal haben die Dortmunder den langjährigen Ligaplatzhirschen nun in Serie besiegt, zunächst viermal in der Liga, nun auch in einem echten Endspiel. Und den Münchnern dabei nicht weniger als drei Titel weggeschnappt.
"Was wir heute wieder geleistet haben, ist fast nicht von diesem Stern. Wir sind hier in Berlin, und es ist eine schwarz-gelbe Hölle", jubilierte Torhüter Roman Weidenfeller, der nach einem Zusammenprall mit Mario Gomez in der ersten Halbzeit ausgewechselt und zum Röntgen ins Krankenhaus geschickt worden war, jedoch rechtzeitig zu den Feierlichkeiten ins Olympiastadion zurückkehrte. Auch Mats Hummels schwelgte: "Das ist ein Tag, der vermutlich bei jedem von uns als einer der erfolgreichsten in die Karriere eingeht."
FC Bayern in der Einzelkritik:Chaosgrätschen und fatale Fehlpässe
Manuel Neuer verewigt sich mit seinen Stollen im Torpfosten, Bastian Schweinsteiger wird getunnelt, Mario Gomez sorgt für diverse Spielunterbrechungen - und die Hoffnung in der Bayern-Abwehr liegt plötzlich wieder auf Daniel Van Buyten. Die Bayern beim 2:5 gegen den BVB in der Einzelkritik.
Die Dortmunder mussten sogar nicht mal ihre beste Leistung abrufen, um die Bayern an diesem Abend zu bezwingen. So wie das Spiel lief, hatten die Münchner ohnehin keine Chance. Nach dem schnellen Führungstreffer von Shinji Kagawa (3. Minute), begünstigt durch einen Katastrophenfehler von Luiz Gustavo, kamen die Bayern durch einen Elfmeter von Arjen Robben zwar zum Ausgleich (25.).
Borussia Dortmund in der Einzelkritik:Begrüßungsgeschenke und No-Look-Pässe
Jakub Blaszczykowski ist lange auf dem Weg zum Titel "Pole des Tages", bis Robert Lewandowski mit dem Toreschießen beginnt. Shinji Kagawa dreht sich wie eine Bohrmaschine durchs Spielzentrum, nur Roman Weidenfeller hilft auch Open-Air-Yoga nicht. Borussia Dortmund im Pokalfinale in der Einzelkritik.
Doch immer, wenn die Bayern das Spiel anschließend an sich reißen wollten, traf der BVB: Erst Mats Hummels per Elfmeter zum 2:1 (41.), dann traf gleich dreimal Lewandowski (45/58./81.), zumeist per Konter, stets in demonstrativer Lässigkeit. Auch Bayern-Kreativling Franck Ribéry traf noch, zum zwischenzeitlichen 2:4, doch mehr als eine statistische Note war dies nicht.
Nein, es waren die Dortmunder, die an diesem Abend mit ihrer gnadenlosen Effektivität überzeugten. Fünf Tore hatten sie gegen die Bayern erzielt - an viel mehr als jene fünf Chancen konnten sich die Betrachter auch nicht erinnern. "Man könnte meinen, wir hätten vier Jahre lang nur trainiert, um heute jeden Ball reinzumachen", konstatierte Trainer Klopp später auf der Pressekonferenz. Halb belustigt, halb immer noch fassungslos.
Auch die Bayern zollten ihren Gegnern Respekt. Nicht bei der Siegerehrung, die sie geschlossen mit ihren Silbermedaillen um den Hals verließen, noch bevor die Dortmunder den Pokal überreicht bekamen, sondern in den Interviews danach. "Dortmund ist derzeit vorne, das muss man klar sagen", erklärte stellvertretend Kapitän Philipp Lahm.
Nicht unerwähnt ließen die Münchner aber, dass vor allem eigene Abwehr-Tölpeleien zu den Gegentoren führten. "Wir haben zu viele Geschenke gemacht", knirschte Bastian Schweinsteiger. Zum Beispiel Gustavo vor dem 0:1. Oder Holger Badstuber und Jérôme Boateng vor dem 1:3. Am kommenden Samstag haben die Bayern nun ihr wichtigstes Spiel des Jahres: das Champions-League-Finale in der eigenen Arena. Bis dahin müssen sie diese Fehler abstellen.
Die Dortmunder nahmen die Geschenke gerne an. Mit dem ersten Double überhaupt beschlossen sie am Samstagabend ihre erfolgreichste Bundesliga-Saison - und das in einem Jahr, in dem der FC Bayern nach der verlorenen Meisterschaft 2011 so richtig angreifen wollte. "103 Jahre hat dieser Verein gebraucht, um das Double zu gewinnen. Ich bin so unfassbar glücklich", sagte BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke. Und er begann, die Dimensionen des Erreichten einzuordnen: "Nach dem Spiel habe ich ein paar Minuten für mich gebraucht. Es ist so viel passiert in den vergangenen sieben Jahren. Ich wollte einfach mal kurz alleine sein."
Nach der Jubelei im Stadion zogen die Borussen noch geschlossen ins "Aktuelle Sportstudio" des ZDF; am Sonntag wird dann in Dortmund gefeiert. Jedoch unter besonderen Vorzeichen: Weil in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt wird, startet der Autokorso erst um 18.09 Uhr, nach Schließung der Wahllokale, an der Westfalenhütte. Eine Stunde später soll er den Borsigplatz passieren, anschließend geht es über die Oesterholzstraße, die Weißenburger Straße und die Geschwister-Scholl-Straße in die Innenstadt.
Kevin Großkreutz war noch am Samstagabend in Gedanken in seiner Heimatstadt. "Die Menschen in Dortmund haben das verdient", sagte Großkreutz, "die Nacht endet heute nicht." Genau genommen auch nicht bis zum Sonntagabend, wenn die Wahllokale geschlossen haben. Und die Dortmunder Party erst richtig losgeht.