Süddeutsche Zeitung

Bundesliga in der Corona-Pandemie:Purer Fußball wird niemals siegen

Fußball braucht die Masse. Doch Corona ist kein Gespenst, das bald wieder verschwindet. Vor dem Spitzenduell zwischen Dortmund und Bayern stellt sich die Frage: Wird es je wieder, wie es einmal war?

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Um die letzten 300 Zuschauer im gähnend leeren Signal Iduna Park haben sie bei Borussia Dortmund in den vergangenen zwei Wochen schwer gekämpft. Im Revier-Derby gegen Schalke waren die paar symbolischen Fans noch erlaubt gewesen, zwei Tage später aber kam das Diktat aus dem Gesundheitsministerium in Düsseldorf: Schon im Champions-League-Spiel gegen St. Petersburg sollten nicht einmal mehr die paar symbolischen Fans kommen dürfen. Dortmunds Gesundheitsamt und OB Ullrich Sierau warfen sich für den BVB in die Bresche - ohne Erfolg. Wenn es am Samstag beim gedachten Stimmungsgipfel des deutschen Fußballs, Dortmund gegen Bayern, wieder nur ein paar Ordner und Fernsehleute im Stadion geben wird, ist das die neue Normalität.

Sein Friseur, sagt BVB-Klubchef Hans-Joachim Watzke, habe ihm gerade erzählt, "dass zu ihm auch nur noch die Hälfte der Leute kommen, die er vorher bedient hat" - obwohl die Haare wohl noch genauso schnell wachsen wie vor Corona. Aber während das Haareschneiden ohnehin eine eher intime Angelegenheit zwischen zwei Leuten ist, spielt der Verlust des Publikums im Profifußball eine riesige Rolle: "Wie bei so vielen Umständen rund um diese Pandemie: Wir können noch gar nicht absehen, welche Auswirkungen all das haben wird", meint Watzke.

Ende Mai verlor Dortmund 0:1 zu Hause, vor leeren Sitzschalen

Bisher hatte sich Dortmunds Geschäftsführer allzu viele Spekulationen darüber verkniffen, was die immer längere Absenz der Fans vom Stadionerlebnis bewirken könnte. Klar, mindestens eine Million Euro Nettoverlust pro Heimspiel, weil keine Tickets verkauft werden können, erst recht keine der sonst 55 000 Dauerkarten in Dortmund. Aber das zweite Gipfeltreffen gegen die Bayern, das nun völlig ohne Publikum stattfinden muss, dazu die viel größere Wucht der zweiten Corona-Welle, das gibt Watzke zu denken. Ende Mai verlor Dortmund 0:1 zu Hause, vor leeren Sitzschalen. Da dachten noch viele, Corona sei ein Gespenst, das bald wieder weg ist.

Man weiß aber inzwischen, dass das Event eines Fußball-Topspiels auf absehbare Zeit nur noch auf den puren Fußball beschränkt bleiben wird. Und der kann zäh sein, wenn einem hohes Pressing und Fünferkette nicht ganz so viel sagen, man aber jeckes Treiben auf den Tribünen immer unterhaltsam fand. Was macht das mit dem Fußball? Und mit dem Publikum? Und wird es je wieder, wie es einmal war?

In einem Doppel-Interview, das Watzke mit seinem Münchner Amtskollegen Karl-Heinz Rummenigge gerade der SportBild gab, sagte er: "Was mir Sorgen bereitet, ist die Entwicklung der Fußball-Kultur: dass die Menschen entemotionalisiert werden und möglicherweise das Interesse am Fußball verlieren, auch wenn irgendwann wieder Zuschauer zugelassen werden."

Gerade vor einem Clasico, wie das Dauerduell der beiden Rivalen seit ein paar Jahren in Anlehnung an die spanischen Kämpfe von Real und Barcelona gern genannt wird, ist die gesunkene Aufregung in Dortmund zu spüren. Fußball braucht, wie alle Massenereignisse, die Masse, um die eigene Wichtigkeit immer wieder neu zu beweisen, um sie ins Überlebensgroße zu steigern. Ohne die Menschenmasse lässt sich der Fußballbetrieb offenbar ganz gut weiter finanzieren, weil schon längst das Fernsehen und die Werbepartner den Betrieb großteils finanzieren, nicht die Eintrittsgelder. Aber seine Bedeutung erhält der Fußball nicht durch das pure Spiel, sondern durch die Aufregung, die wie ein gigantisches Schwungrad das Spiel antreibt. Wie ein Perpetuum mobile, das von allein in ewigem Betrieb bleibt. Bis es jemand anhält.

In Corona-Zeiten regt sich Deutschland über steigende Inzidenzwerte auf, über beängstigende Infektionszahlen, über die Lage an der Intensivbetten-Front. Fußball, selbst so etwas wie der Clasico, tritt im Vergleich zurück. Der Fußball weiß, das sagt Watzke schon lange, "dass wir keine Sonderrolle beanspruchen dürfen. Das gehört sich nicht. Wir können nur ein überzeugendes Hygienekonzept durchziehen, was uns gelingt. Und wir hoffen, dass man uns nicht auch noch die Geisterspiele wegnimmt. Ohne diese Spiele ohne Publikum im Stadion können wir alle bald einpacken". Und zu Hause, so hat Dortmunds Boss registriert, schauen durchaus sogar etwas mehr Leute die Bundesliga als zuvor. Noch jedenfalls.

Selbst die meisten sogenannten Ultras, die die besondere Stadionatmosphäre auf der Südtribüne seit Jahren mitgeprägt haben, sollen inzwischen ihren Frieden mit den zunächst vehement bekämpften Geisterspielen gemacht haben. So heißt es jedenfalls in Dortmund. Zugleich hat sich gerade die zweitgrößte Ultra-Gruppierung, die "Jungborussen", kurz Jubos, sang- und klanglos aufgelöst. Das Symptom der Lustlosigkeit hat sich breit gemacht, den letzten Knacks soll es gegeben haben, als Schalker Fans die BVB-Anhänger regelrecht überfallen hätten. Auf Revanche hatte wohl keiner mehr ausreichend Lust.

In Zeiten von Geisterspielen fehlt den Ultras die große Bühne Stadion. Der Stadionbesuch, das Live-Erlebnis im Block, das ist letztlich der Kitt, der alles zusammenhält. Ein Abbröckeln in der besonders aktiven Fanszene soll es aber vorher schon gegeben haben. Die vermeintliche Jugendkultur der Ultras soll Nachwuchsprobleme haben. Sich sechs oder mehr Stunden in einen Bus setzen, zum Auswärtsspiel fahren, drei Stunden im Stadion abhängen, gegängelt von Ordnern, bepöbelt von gegnerischen Fans, dann sechs Stunden zurück: Das ist nicht mehr das, was die jüngste Generation als Freizeitthema sucht.

Der Trend geht zum Individualismus, zur Kleingruppe, zum Digitalen. Die Jubos sollen zuletzt noch rund 60 Mitglieder gehabt haben. Auswärtsspiele muss man zwar gerade nicht durchstehen - aber nur noch zusammen Geisterspiele vor der Glotze schauen? Das ist für die Fußball-Kultur ein bisschen wenig. Für viele, selbst für die, die nie ins Stadion gegangen sind, gab es rund um die brodelnden Bilder aus den Stadien einen ganzen Lifestyle. Ein riesiges Lagerfeuer, an dem selbst die sich wärmen wollten, die vom modernen Fußball nicht allzu viel verstehen. Corona scheint hier Auflösungstendenzen nicht zu erzeugen, aber sie dramatisch zu beschleunigen. Dortmund hatte für das letzte Revierderby gegen Schalke immerhin noch an die 40 000 Karten-Anfragen, obwohl nur 300 Plätze zu vergeben waren, aber auch diese 40 000 machen nicht mal die Hälfte der Stadionkapazität aus.

Die Befürchtungen der wenigen Fußball-Vordenker der Liga werden aber nicht offen diskutiert. Man weiß ja, dass man riskiert, durch zu viele Statements über den Bedeutungsverlust genau diesen herbeizureden. So bleibt, sich durchzuwurschteln, mit Fußball im Fernsehen, mit einem komprimierten Spielplan, der schnell zu einer Übersättigung daheim führen kann. Schon wieder leere Ränge vor grünem Rasen, schon wieder kein Anfeuern, wenn die eigene Mannschaft hinten liegt.

Ein Leuchtturm-Spiel wie BVB gegen Bayern wird in 200 Länder der Welt übertragen. Da wird allenfalls auf hohem Niveau gelitten, denn das reine Fußballspiel wird viele Zuschauer am Bildschirm überzeugen. "Es wird aber sicher für die kleineren Vereine schwieriger", glaubt Watzke, "weil sie oft letzte Reserven mobilisiert haben, wenn das Publikum im Stadion sie gepusht hat." Aber letztlich sind das nur Begleiterscheinungen. FC-Bayern-Vorstand Karl-Heinz Rummenigge brachte es im Gespräch mit Sportbild auf den Punkt: "Um die Fußballkultur mache ich mir genauso viele Sorgen wie um die Finanzen."

Beides hängt weit mehr voneinander ab, als man es in Vor-Corona-Zeiten wahrhaben wollte. Kurzfristig lässt sich der Kostenapparat der Liga einigermaßen aufrecht erhalten. Aber langfristig wird das Niveau nur stabil bleiben, wenn die Leute zu Hause das Interesse behalten. Der Albtraum der Fußball-Manager dürfte die Familie sein, die sich distanziert, am Samstag bei der Fahrradtour oder beim Aufräumen im Garten, während die Jugend am Computer sitzt. Man wird sehen, ob der Fußball bald noch so wichtig ist, wie er es zwei, drei Jahrzehnte lang war.

Ob Mats Hummels rechtzeitig seine muskulären Probleme überwindet, mit welcher Aufstellung BVB-Trainer Lucien Favre diesmal überraschen wird, ob Haaland schon so gut ist wie Lewandowski: Noch interessiert das am Samstag große Teile der Nation. Aber niemand weiß gerade so genau, wie lange noch.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2020
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