Dass ausgerechnet in dieser Woche der Sichtschutz rund um das Trainingsgelände von Borussia Dortmund im Stadtteil Brackel um mehrere Meter erhöht wurde, um die Übungseinheiten gegen die letzten neugierigen Blicke abzuschirmen, mag Zufall sein. Aber ins Bild passt es gerade in Dortmund. Peter Bosz, so wurde glaubhaft versichert, habe das Training am Donnerstag geleitet. Er hatte ja die zweite Halbzeit gegen Schalke 04 mit den vier Gegentreffern (4:4) überstehen müssen, die Hauptversammlung des Ballspielvereins Borussia e.V. am Sonntag, die Hauptversammlung der Aktionäre am Montag, die Pfiffe vieler Mitglieder gegen ihn und seine Spieler - und auch die höchst öffentliche Ermahnung seines Chefs Hans-Joachim Watzke, der ihn aufforderte, er möge mit Manager Michael Zorc "jeden Stein umdrehen", um den freien Fall der Mannschaft zu stoppen.
Bosz ist immer noch da. Man könnte meinen, es sei fast ein Wunder, dass der freundliche, ruhige Holländer weitermachen darf - wenn auch verbarrikadiert hinter blickdichten Plastikplanen und erhöhten Zaunpfosten - angesichts seiner Bilanz: ein einziger Sieg aus den letzten zehn Pflichtspielen, und der auch nur im Pokal gegen Drittligist Magdeburg, nur zwei Pünktchen von 18 möglichen aus den letzten sechs Bundesliga-Spielen, Knockout in der Champions League ohne Sieg - und das alles mit Borussia Dortmund, zu Saisonbeginn an Position acht im Ranking der europäischen Großklubs notiert. Für Carlo Ancelotti, den dreimaligen Champions-League-Gewinner, hat es bei Bayern München zwei Niederlagen gebraucht, bis man ihm die weitere Kompetenz für das Erreichen der üblichen Saisonziele absprach und er über Nacht seinen Job los war.
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Nach 40-tägiger Verletzungspause steht Thomas Müller beim Spiel gegen Hannover vor der Rückkehr auf den Platz. Zur Debatte um die vielen verletzten Spieler beim FC Bayern äußert er sich diplomatisch.
Und Bosz? Ein Trainer, der auf genau ein Jahr Erfahrung bei einem Top-Klub verweisen kann, bei Ajax Amsterdam? Wie man hört, wird von ihm mindestens ein Sieg aus den nächsten beiden Bundesliga-Spielen erwartet, in Leverkusen und gegen Bremen, und ein achtbares Spiel im letzten Champions-League-Gruppenduell bei Real Madrid. Irgendein Sieg mal wieder - so klein sind gerade die Ansprüche.
Der Unterschied zu Ancelottis ruckartiger Demission lässt sich, kaum eine Woche nach dem Titanic-artigen Untergang in der zweiten Halbzeit gegen Schalke, auf eine kurze Formel bringen: Dortmund hat keinen Jupp Heynckes!
Wie man hört, wurden als Plan B zwei frühere BVB-Meistertrainer angefragt, die Sondierungsgespräche mit Ottmar Hitzfeld und Matthias Sammer sollen aber etwa so verlaufen sein wie jene für die Jamaika-Koalition in Berlin - nur kürzer. Beide hätten mit der Begründung abgelehnt, ein für allemal nicht mehr ins nervige Trainerdasein zurückkehren zu wollen. Auch Heynckes hatte diese Woche ja bekundet, sich die Bayern nur bis Saisonende anzutun.
Trotz der Zusammenbrüche können die BVB-Analysten keine Konditions-Defizite erkennen
Über andere Elder Statesmen soll in Dortmund weiterhin nachgedacht werden: über Horst Hrubesch, 66, Morten Olsen, 68, oder den vergleichsweise blutjungen Armin Veh, 56 - allesamt Übergangslösungen. Ähnlich wie bei den Bayern vor ein paar Wochen scheint es fast so zu sein, als stehe die akute Trainersuche unter dem Motto der alten Konrad-Adenauer-Verheißung: keine Experimente! Als habe man kein Zutrauen zu all den jungen Jahrgangsbesten und Jahrgangszweitbesten, die die DFB-Trainer-Akademie Jahr für Jahr in den Markt entlässt. Und als versuche man beim BVB, auf Zeit zu spielen.
Man kann sagen: Klar, es ist Herbst, da sind alle guten Leute irgendwo fest unter Vertrag: Julian Nagelsmann, 30, Domenico Tedesco, 32, Hannes Wolf, 36, alle sehr jung, alle gerade super-hip. Wolf, Cheftrainer beim VfB Stuttgart, war sogar bis zum Spätsommer 2016 der A-Junioren-Trainer in Dortmund und hochgeschätzt. Damals wurde Thomas Tuchel in Dortmund zwar schon angezweifelt, aber den Jugendtrainer zum Chef der teuren Profitruppe zu befördern, darauf wäre zu jener Zeit niemand beim BVB gekommen. Wer hätte so einen Schritt auch verstanden? Andere aktuelle Hotshots wie Ralf Hasenhüttl (RB Leipzig) oder Nico Kovac (Eintracht Frankfurt) sind nicht mehr ganz so jung, stehen aber unter Vertrag. Wie schon im letzten Sommer.
Auch Uli Hoeneß hätte offenbar die nächste Trainersuche nach dem Heynckes-Nachfolger gerne noch einmal verschoben, weil er die ganz jungen Trainer womöglich für zu jung für den titanischen Druck beim FC Bayern hält. Dortmund glaubte im vorigen Sommer ein ähnliches Problem zu haben. Bosz war schon damals ein Kompromiss, als man um Nagelsmann buhlte, der aber noch in Hoffenheim festsitzt, und bei dem die Borussen wohl auch ein konkurrierendes Interesse des FC Bayern sehen und fürchten müssen. Andere, wie der einstige Gladbacher Trainer Lucien Favre (OGC Nizza), steckten in einem Vertrag fest. Allzu viele andere Kandidaten sind den Dortmundern nicht eingefallen. Der Pool scheint klein zu sein, aus dem die Topklubs Bayern und Dortmund glauben, einen adäquaten Trainer fischen zu können. Einen, der in die Traditionskette passt, den aber auch die höchst anspruchsvollen Profis, die Sponsoren und nicht zuletzt die klubnahe Öffentlichkeit akzeptiert.
Immerhin scheint es so zu sein, dass Dortmund den Platz freihalten wollte für einen wegweisenden Neuanfang im Sommer 2018. Dass der BVB es weiter auf Nagelsmann abgesehen hat und den eigenen Mann Hannes Wolf sowieso dauerbeobachtet, hat sich herumgesprochen. Nagelsmann soll aus seinem Vertrag angeblich 2019 per Ausstiegsklausel aussteigen können. Gut möglich, dass sich das Datum mit einer Ablösesumme vorverlegen ließe.
Bosz hat unterdessen offenbar die eigene Beratungsresistenz überwunden. Gegen Schalke wich er von seinem typisch niederländischen, offensiv zugespitzten 4-3-3-System ab. Denn mit zwei verunsicherten Innenverteidigern und davor nur einem defensiven Mittelfeld-Mann, der noch dazu hauptsächlich offensiv denken sollte, war die BVB-Defensive im Saisonverlauf als Scheunentor entlarvt worden. Sportdirektor Zorc und Spieler wie Kapitän Marcel Schmelzer und der gefühlte Kapitän Nuri Sahin sollen Bosz inzwischen überzeugt haben, auf mehr Stabilität umzustellen: mit drei Innenverteidigern (also einer Fünferkette), und davor mit den zwei (statt nur einem) defensiven Mittelfeldspieler, nämlich Julian Weigl und Sahin. Gegen Schalke wirkte das aber auch nur bis zur 4:0-Pausenführung.
Im nächsten Zug soll nun wohl auch Neven Subotic als Innenverteidiger hervorgezaubert werden. Den langjährigen Abwehrpartner des zum FC Bayern abgewanderten Mats Hummels hatte Bosz bisher nur einmal, beim 2:2 in Frankfurt, nominiert. Subotic, Held der BVB-Fans, spielte solide, wurde aber von Bosz gleich wieder ins Abseits befördert. Jetzt ist Subotic offenbar gefragt - für mehr Mut und Stabilität.
An der Schwäche von Bosz, während des Spiels zu wenig auf taktische Veränderungen des Gegners zu reagieren, wird das aber wohl wenig ändern. Auch nicht an seiner stoischen, beinahe emotionslosen Körpersprache. Beim 4:4 gegen Schalke wurde dies erneut deutlich. Dennoch wollen sie in Dortmund doch noch eine Wende mit Bosz erzwingen, irgendwie. Gegen Schalke blitzte eine gute halbe Stunde lang die Spiellaune der ersten sieben Saisonrunden auf, als Dortmund sich fünf Punkte Vorsprung auf die Bayern erstritten hatte. Trotz der Zusammenbrüche, die die Mannschaft derzeit in den zweiten Halbzeiten erleidet, wollen die BVB-Analysten anhand der Kennziffern keine konditionellen Defizite erkennen. So etwas ist heutzutage präzise messbar. Alles Nervensache also.