Bundestrainerin Silvia Neid:"Mein Fußballauge ist besser denn je"

Die WM wird ihre letzte sein: Silvia Neid über Herausforderungen in Kanada und das Abschiednehmen.

Interview von Kathrin Steinbichler

An diesem Samstag (24 Uhr/ZDF) beginnt mit dem Eröffnungsspiel zwischen Gastgeber Kanada und China die siebte Frauenfußball-Weltmeisterschaft - am Sonntag (22 Uhr/ZDF) startet das deutsche Team mit der Vorrunden-Partie gegen die Elfenbeinküste. Für Bundestrainerin Silvia Neid wird es das letzte Mal sein, dass sie den aktuellen Europameister zu einer WM führt: Ein Gespräch über den bevorstehenden Abschied der 51-Jährigen, über die Veränderungen seit dem Scheitern bei der Heim-WM 2011 und die Kunst der modernen Mannschaftsführung.

SZ: Frau Neid, wird Ihnen nicht bald etwas fehlen? Sie waren bisher bei allen Frauenfußball-Weltmeisterschaften dabei, erst als Spielerin, dann als Co- und schließlich als Bundestrainerin.

Silvia Neid: Unglaublich, oder? Vor kurzem habe ich mir das bewusst gemacht: Ich habe alle Erfolge und Misserfolge der deutschen Nationalmannschaft miterlebt, auf welche Art auch immer.

Im ersten Frauen-Länderspiel 1982 gegen die Schweiz wurden Sie als 18-Jährige eingewechselt, eine Minute später schossen sie das 3:0. Bei der ersten Frauenfußball-EM 1989 führten Sie die Mannschaft als Spielführerin zum Titel. Beim ersten WM-Erfolg 2003 in den USA waren Sie als Co-Trainerin mitverantwortlich, bei der Titelverteidigung 2007 in China waren Sie die Cheftrainerin. Zusammengefasst: Es gibt die deutsche Nationalelf der Frauen bislang nicht ohne Sie.

Wenn ich darüber nachdenke, ist das ein seltsames Gefühl. 34 Jahre! 34 Jahre Spielerin, Co-Trainerin, Cheftrainerin . .

. . . . es gibt überhaupt im Fußball keine andere Person, die eine derart grundlegende Konstante war in der Geschichte ihrer Nationalauswahl.

Es ist schön, dass ich das alles erleben durfte, und ich bin auch stolz darauf.

Was, würden Sie sagen, haben Sie dem deutschen Frauenfußball gegeben?

Mein ganzes Leben. Ich war schon immer irgendwie mit dem DFB verheiratet. Ich kam da mit 17 hin, habe nur gefehlt, wenn ich verletzt war, und jetzt bin ich 51. Ich war immer ein Teil des deutschen Frauenfußballs, und das wollte ich auch so haben. Ich bin noch jedes Mal ergriffen, wenn vor einem Spiel die Nationalhymne gespielt wird. Das ist einfach ein besonderer Moment, damals wie heute.

Germany Press Conference & Training - FIFA Women's World Cup 2015

Tritt als Weltranglisten-Erster in Kanada um den Titel an: Die deutsche Elf mit Trainerin Silvia Neid (rechts) beim Training in Ottawa.

(Foto: Dennis Grombkowski/Getty)

Wieso hören Sie dann auf?

Weil ich es schon immer wichtig fand - als Spielerin wie als Trainerin - rechtzeitig zu erkennen, wann Schluss ist. Und ich habe für mich gespürt, dass dieser Zeitpunkt gekommen ist. Ich werde jetzt mit der Mannschaft diese WM in Kanada bestreiten, mit voller Hingabe, mit all meiner Erfahrung und mit ganz viel Lust auf das Turnier, das unglaublich spannend wird - und das ja auch mit erstmals 24 Teilnehmern größer ist als alle bisherigen. Dabei qualifizieren wir uns hoffentlich auch als eine der besten drei europäischen Nationen für Olympia 2016 in Rio. Aber im Anschluss daran ist für mich einfach Zeit für etwas Neues. Dann baue ich beim DFB für den Frauenfußball die Scouting-Abteilung auf.

Die WM in Kanada ist ihre dritte als Cheftrainerin . . .

. . . die erste war super, die zweite nicht so schön. Die dritte wird jetzt hoffentlich wieder super.

Wie unterschiedlich waren die Herausforderungen bei diesen Turnieren?

2007 in China mussten wir uns auf die komplett andere Kultur und das schwüle Wetter einstellen. 2011 in Deutschland war die größte Herausforderung, mit der Medienöffentlichkeit und der riesigen Erwartungshaltung eines ganzen Landes umzugehen. Jetzt in Kanada sind die Herausforderungen, dass wir zwischen den Spielorten große Distanzen und verschiedene Zeitzonen überwinden müssen - und dass wir auf Kunstrasen spielen. Der Kunstrasen ermüdet total, das haben wir im Training schon festgestellt. Das aufzufangen, wird nicht nur für die Mannschaft, sondern auch für den gesamten Betreuerstab eine Herausforderung.

Nach dem Viertelfinal-Aus bei der WM 2011 hat die umgebaute Mannschaft mit dem EM-Sieg 2013 einen Neustart hingelegt. Was hat sich verändert seit der Enttäuschung von 2011?

Wir gehen anders miteinander um als 2011. Wir haben eine andere Mannschaft und darin auch andere Charaktere. Die Spielerinnen gehen sehr offen miteinander um, sind füreinander da, interessieren sich und respektieren sich. Es gibt keinerlei Grüppchenbildung.

Das war 2011 bei der Heim-WM anders?

Mit 24 Teams

VORRUNDE

Gruppe B:

07.06.: Deutschland - Elfenbeinküste (22.00/ZDF), Norwegen - Thailand (19.00).

11.6./12.6.: Deutschland - Norwegen (22.00/ARD), Elfenbeinküste - Thailand (1.00).

15.6.: Thailand - Deutschland (22.00/ZDF), Elfenbeinküste - Norwegen (22.00).

Gr. A: Kanada, China, Neuseeland, Niederlande.

Gr. C: Japan, Schweiz, Kamerun, Ecuador.

Gr. D: USA, Australien, Schweden, Nigeria.

Gr. E: Brasilien, Südkorea, Spanien, Costa Rica.

Gr. F: Frankreich, England, Kolumbien, Mexiko.

Die Gruppenersten und -zweiten sowie die vier besten Dritten erreichen das Achtelfinale. Finale: 6. Juli, 1 Uhr, in Vancouver.

Der gesamte Spielplan steht hier.

Es ist jedenfalls heute anders. Wir haben jetzt viele junge Spielerinnen, die bei der EM 2013 bewiesen haben, dass sie auf Augenhöhe spielen. Und die Älteren haben bewiesen, dass sie eine Mannschaft führen und sich im laufenden Turnier aus einer schwierigen Lage befreien können. Das war eine unglaublich wichtige Erfahrung, von der wir jetzt nur profitieren können.

Haben auch Sie sich mit dem unerwarteten EM-Sieg 2013 etwas bewiesen?

Mir war wichtig zu zeigen, dass nicht alles so negativ ist, wie es nach dem WM-Aus 2011 dargestellt wurde, auch was meine Person angeht. Seit dieser Erfahrung vom Titelgewinn 2013 bin ich sehr gelassen und viel ruhiger. Völlig egal also, wie diese WM jetzt ausgeht: Ich weiß, dass ich keine schlechte Trainerin bin, dass ich Spielerinnen und eine Mannschaft entwickeln kann. Ich habe ein ganz gutes Auge für das Spiel, denke ich. Zum Lesen brauche ich zwar inzwischen eine Brille, aber mein Fußballauge, das ist besser denn je.

Hat sich Ihr Führungsstil noch einmal verändert?

Als Spielerin war ich sehr fordernd, an mich wie an meine Mannschaft, und das bin ich heute noch. Aber mein Führungsstil hat sich auf jeden Fall geändert. Es heißt ja immer, ich würde eine gewisse Härte pflegen, und Disziplin steht für mich nach wie vor über allem. Aber ich kann jetzt auch mal über Kleinigkeiten wegschauen.

Sie sind also weicher geworden?

So würde ich es nicht nennen. Ich schätze jetzt mehr ab, ob ich etwas sagen oder vorgeben muss, oder ob die Mannschaft auch mal etwas unter sich regeln kann. Früher, in den Anfängen der Nationalmannschaft, war man ja als Spielerin und als Trainer sehr alleine mit seinen Aufgaben, man war viel mehr auf sich gestellt. Heute haben wir beim DFB ein tolles Umfeld mit vielen Experten, mit denen man sich ständig austauschen kann und von denen man noch vieles lernen kann, sei es bei der Trainingssteuerung, psychologischen Nuancen, der Ernährung oder in der Organisation. Wir beraten uns viel - am Ende aber entscheide ich.

Germany Press Conference & Training - FIFA Women's World Cup 2015

Sie begann das Fußballspielen, als es noch keine Frauen-Nationalelf gab, und führte diese dann an die Weltspitze: Silvia Neid.

(Foto: Dennis Grombkowski/Getty Images)

Sie müssen - wie schon bei der EM - auch jetzt bei der WM wieder auf einige wichtige Spielerinnen verzichten, etwa auf die schwangere Lira Alushi, auf Luisa Wensing wegen eines Wadenbeinbruchs oder auf Weltfußballerin Nadine Keßler, die nach einer Knie-OP ausfällt.

Das ist natürlich unheimlich schade, aber wir nehmen es, wie es kommt. Und es hat uns so gesehen gut getan, dass wir in den vergangenen beiden Jahren kein Länderspiel mit derselben Besetzung beginnen konnten, kein einziges. Denn die Mannschaft hat dadurch gelernt. Jede einzelne weiß, dass wir eine unheimliche Qualität im Kader und auf der Bank haben, und das kann für uns bei dieser WM ein Vorteil sein. Wegen des Kunstrasens und angesichts der Reisen werden wir viel wechseln müssen, und das bedeutet bei uns keinen Leistungsabfall, im Gegenteil: Wir ziehen Stärke daraus, dass wir jede bringen können und so viele verschiedene Charaktere im Team haben.

In der Vorrunde mit den WM-Debütanten Elfenbeinküste und Thailand spielt nur Norwegen auf Augenhöhe. Gilt das Erreichen des Achtelfinales als Pflicht?

Wir sind sicherlich auf dem Papier mit Norwegen die stärkste Mannschaft in dieser Gruppe, aber bei einer WM musst du gegen jeden Gegner erst einmal gewinnen, und das ist nicht immer so einfach, wie es aussieht. Die Elfenbeinküste, der wir im ersten Spiel gegenüber stehen, mag Außenseiter sein, aber auch gegen so eine Mannschaft, die sich vielleicht mit zwei Fünferketten hinten rein stellt, muss man erst einmal zum Abschluss kommen und treffen.

Auch Spielführerin und Torhüterin Nadine Angerer hat angekündigt, dass diese WM ihre letzte ist. Beschäftigt der bevorstehende Umbruch die Mannschaft?

Ich persönlich mag klare Verhältnisse und gehe mit meinen Spielerinnen immer ehrlich um. Ich sage meinen Spielerinnen immer, was mir an ihrem Auftreten und ihrem Spiel gefällt und was nicht. Ich für meinen Teil wollte also auch nicht länger herumdrucksen, wenn die Fragen kamen, ob ich meinen Vertrag beim DFB verlängere oder nicht. Ich denke, Natze (Angerer, d. Red.) ging es mit ihrer Entscheidung ähnlich, und so können jetzt alle offen damit umgehen und sich auf die WM konzentrieren. Ich finde, innerhalb einer Mannschaft ist man es sich schuldig, ehrlich miteinander umzugehen. Das hat etwas mit Vertrauen zu tun, und das ist untereinander sehr groß in dieser Mannschaft.

Was dürfen wir also bei dieser WM erwarten von Deutschland?

Auf dem Niveau, auf dem die deutsche Nationalelf antritt, entscheiden in einem Spiel Nuancen. Und um diese Nuancen geht es bei einer WM, diese Nuancen müssen wir für uns entscheiden. Ich habe den Spielerinnen während der Vorbereitung ganz klar unsere Spielidee vorgestellt, in der Defensive wie in der Offensive, anhand von vielen zusammengeschnittenen Szenen. Und die habe ich nicht von irgendwem oder aus dem Männerfußball geholt, sondern von uns, von dieser Mannschaft selbst. Denn diese Mannschaft ist eine sehr gute, die schon bewiesen hat, was sie kann. Und das kann sie noch besser und konstanter als vielleicht zuletzt bei der EM, sie muss es nur zeigen.

Sie klingen selbstbewusst, zugleich aber warnen Sie davor, dass wie 2011 der Titel gefordert wird.

So eine WM mit im Idealfall sieben Spielen ist lang, da muss man Gegner für Gegner angehen und darf nicht schon an die mögliche übernächste Aufgabe denken. Und schon ab dem Viertelfinale können wir auf große Mannschaften wie Frankreich oder die USA treffen, solche Spiele kann man nur zu einem bestimmten Grad planen. Wir sind gut, wir haben eine gute Mannschaft. Aber wir wissen auch, wie schwer es an manchen Tagen sein kann, die Qualität auf den Platz zu bringen. Unser Ziel ist es, das Spiel für Spiel zu schaffen, dann können wir weit kommen.

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