Bundestrainer Löw scheitert bei Fußball-EM:Total verplant

Es begann mit Löws Selbstsicherheit und endete im EM-Aus: Die deutsche Nationalelf erweist sich im vierten großen Turnier in Folge als zu klein für die ganz Großen. Zu viel ist gegen Italien schief gelaufen. Hat Joachim Löw mit seiner erneuten Umstellung die eigene Mannschaft überfordert?

Thomas Hummel

Als die Italiener zum ersten Mal an diesem Abend ihre Ordnung verloren, stand Joachim Löw steif in seiner Coaching Zone. Während die Azzurri sich ekstatisch freuten, starrte der Bundestrainer sekundenlang auf den Rasen des Warschauer Nationalstadions, in den die meisten seiner Spieler gerade sanken. Das Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft war zu Ende, die letzte Hoffnung, dieses völlig verkorkste Spiel noch durch einen Eingriff des Schicksals drehen zu können, war dahin. Das Turnier war für Deutschland beendet.

Da kam in Joachim Löw der ehrenhafte Impuls auf, die paar Schritte hinüberzugehen zu seinem Trainerkollegen Cesare Prandelli, dem Sieger zu gratulieren, wie sich das gehört. Doch Prandelli verschwand in diesem Moment zwischen seinen jubelnden und tanzenden Spielern und Betreuern. Löw musste umkehren, war wieder allein.

Mehr als eine Stunde später kam Löw in den Saal der Pressekonferenz. Der 52-Jährige hatte inzwischen seine Fassung wiedergefunden und beschlossen, sich seine EM-Mission keineswegs schlecht reden zu lassen. "Wir haben immer noch ein großartiges Turnier gespielt. Die Mannschaft hat uns viel Freude gemacht, sie hat ein Kompliment verdient. Wir haben vier Spiele gewonnen und eins verloren."

Aber dieses eine war nun mal das Halbfinale gewesen, 1:2 gegen Italien, wieder gegen Italien. Und Joachim Löw ahnte vielleicht schon, dass er die Debatten um diese Niederlage nicht mit ein paar glättenden Worten wird beruhigen können.

Auffallende Selbstsicherheit

Zu viel war schief gelaufen, zu viel auch, was in den Bereich des Bundestrainers und seines Stabs fällt. Es begann mit dieser auffallenden Selbstsicherheit, die Löw vor der Partie gezeigt hatte und die sich über das gesamte deutsche Lager legte. Es schien wieder einmal so, dass die taktische Abteilung den Spielern einen wasserdichten Plan mit aufs Spielfeld würde geben können, der nach chirurgischer Analyse des Gegners nur einen Sieg für Deutschland zulasse. Es wäre nicht das erste Mal gewesen in der Turnierhistorie des Bundestrainers Joachim Löw. Doch diesmal ging der Plan kolossal daneben.

Die Deutschen hatten sich vorgenommen, das italienische Zentrum mit Andrea Pirlo und Daniele De Rossi früh zu stören und damit den Motor des Gegners lahmzulegen. Deshalb löste Löw zum ersten Mal seit Jahren einen Flügelstürmer auf und brachte stattdessen Toni Kroos. "Ich sollte mich im zentralen Mittelfeld direkt neben den Mesut stellen", erklärte Kroos seine Aufgabe.

Doch dieser Schritt verkehrte sich in sein Gegenteil: Statt die Stärken des Gegners zu stören, nahmen sich die Deutschen selbst aus dem Spiel. Statt die Schwächen des Gegners auf den Außenbahnen zu nutzen und ihn dort vor Probleme zu stellen, hatten die Italiener die Deutschen nun genau dort, wo sie sie haben wollten: in der Mitte.

Von dort aus dominierten Pirlo, De Rossi, Claudio Marchisio und Riccardo Montolivo das Spiel, und obwohl Löw diese Mitte stärken wollte, freute sich Trainer Cesare Prandelli, "dass wir im Zentrum immer in Überzahl waren".

Überfordert von der taktischen Umstellung?

Wie dieses Paradoxon zustande kam, bleibt eines der Geheimnisse des Spiels. Waren die Deutschen überfordert von ihrer eigenen taktischen Umstellung? Stimmt die Statistik der Uefa nach der Partie, wonach die Italiener sechs Kilometer mehr gelaufen waren als die Deutschen?

"Zum vierten Mal in die Fresse"

Dass die Gegentore dann jeweils über die verwaiste rechte deutsche Seite fielen, versinnbildlicht Löws fehlgeschlagen Plan. Vor dem 0:1 hatte der staksige Giorgio Chiellini den weiten, freien Raum vor sich und trug den Ball bis zu Stürmer Antonio Cassano. Das anschließende Abwehrverhalten von Mats Hummels hatte allerdings keine taktischen Ursachen, es war schlichtweg schwach. "Er hat den Ball zwischen den Beinen liegen, ich sehe das, will den Ball wegspitzeln, krieg ihn aber nur drei Zentimeter weg, er dreht sich, flankt. Klar, den Zweikampf muss ich gewinnen", gestand Hummels. Denn die Flanke fiel genau auf den Kopf von Mario Balotelli, Italien ging in Führung.

Nach dem Rückstand offenbarte sich die gesamte Verunsicherung der deutschen Mannschaft. Weil die Italiener ganz weit vorne angriffen, zerfaserte der Spielaufbau, die Selbstsicherheit war einer kollektiven Angst gewichen, den nächsten Fehler zu begehen. Hummels hatte mit seinem Missgeschick vor dem Gegentor zu kämpfen, Bastian Schweinsteiger strahlte wieder die Präsenz eines Spielers aus, der aufgrund von Verletzungen nicht fit ist.

Toni Kroos wusste, wie er sich in der Defensive verhalten muss. Wohin er bei eigenem Ballbesitz rennen sollte, wusste aber offenbar niemand. Lukas Podolski hatte seine besten Szenen vor dem Spiel, als die polnischen Zuschauer seinen Namen durch das Stadion brüllten. So wunderte sich Stürmer Mario Gomez darüber, dass reihenweise Bälle auf Scheitel- und Brusthöhe in seine Richtung flogen, die selbst Mario Mandzukic oder Claudio Pizarro nicht verarbeitet hätten.

Das 0:2 bereitete Montolivo auf der leeren deutschen rechten Seite mit einem der gefürchteten langen Pässe auf Balotelli vor. Philipp Lahm, sonst noch einer der besten, verschätzte sich völlig und musste zusehen, wie Balotelli den Ball ins Kreuzeck nagelte (36.). Dass der Torschütze danach in einer Kraft- und Überlegenheitspose seinen statuenhaften Oberkörper zeigte, blieb Balotellis egozentrische Randnotiz. Entscheidender war, dass seine Mitspieler ihre fußballerischen Fähigkeiten zeigten, wie Balotelli seinen Oberkörper.

Leidenschaftlicher, energischer, entschlossener

Die Italiener hatten nicht nur den besseren Plan dabei, sie wirkten auch leidenschaftlicher, energischer, entschlossener. Zwar durften die Deutschen für sich in Anspruch nehmen, nicht gerade vom Glück verfolgt gewesen zu sein. Pirlo rettete zu Beginn des Spiels gegen Hummels auf der Linie, Torwart Gianluigi Buffon hielt Fernschüsse von Kroos, Sami Khedira und einen Freistoß von Marco Reus. In der konfusen Schlussphase hätte vielleicht früher das 1:2 fallen können als erst in der Nachspielzeit durch einen Handelfmeter von Mesut Özil.

Doch hätten die Italiener in der zweiten Halbzeit ihre Konter schlauer zu Ende gespielt, Deutschland wäre in ein Debakel gerutscht. Mario Gomez wies dezent darauf hin, dass man ein Spiel auch mit einem fehlerhaften Matchplan gewinnen kann: "Man kann immer die Taktik vorschieben, aber wir auf dem Platz müssen das regeln und das haben wir nicht geschafft."

Als die deutschen Spieler merkten, dass der Plan ihres Trainerstabs nicht aufging, gerieten sie phasenweise in Panik. Plötzlich hielten sich manche an überhaupt keinen Plan mehr und liefen anarchisch über den Rasen oder standen wie Kroos Mitte der zweiten Halbzeit sekundenlang ratlos herum. Löw versuchte in der Halbzeit, seine Fehler durch die Einwechslungen von Miroslav Klose und Marco Reus zu korrigieren. Doch das reichte bei weitem nicht. Die Dynamik des Abends wäre nur noch durch einen glücklichen Umstand, durch ein frühes 1:2 zu stoppen gewesen. Doch das gelang nicht.

Auf die Fehler angesprochen, reagierte Joachim Löw betont ruhig: "Im Nachhinein kann man immer leicht sagen, ich hätte etwas ändern sollen." Er betonte die Notwendigkeit, sich auch nach den Stärken des Gegners richten zu müssen. Kapitän Philipp Lahm verwies auf die Fehler vor den Gegentoren: "In unserer Mannschaft steckt so viel Potential, aber wenn man es dann nicht abrufen kann oder in einigen Situationen nicht clever ist, dann verliert man so ein Spiel."

Was bleibt am Ende der Nacht von Warschau? Im vierten Turnier in Folge ist die talentierte deutsche Mannschaft kurz vor dem Ziel gescheitert. Im vierten Turnier in Folge ist sie weder unglücklich noch unverdient ausgeschieden, sondern hat ein großes Duell völlig zurecht verloren, weil wirksame Mittel fehlten, um dem starken Gegner beizukommen. Acht Spieler des FC Bayern München hatten angesichts der Pleiten in Bundesliga, DFB-Pokal und Champions League nun "zum vierten Mal in die Fresse" gekriegt, wie es Mario Gomez formulierte.

Und es bleibt ein Satz des 34-jährigen Miroslav Klose: "Der Trainer hat in der Kabine gesagt, dass es weitergeht. Aber für mich kommen nicht mehr viele EM oder WM."

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