Bundestrainer Löw kritisiert Boateng:Ärgerliches Amüsement bei Nacht

Einsatz auf Bewährung: DFB-Abwehrspieler Jérôme Boateng verärgert mit seinem nächtlichen Ausflug zu einem Illustriertenmodel den Bundestrainer. Joachim Löw sieht sich prompt zu einer Regierungserklärung verpflichtet - zum EM-Auftakt gegen Portugal steht Boateng nun doppelt in der Pflicht.

Philipp Selldorf, Danzig

"Dzien dobry", sagte Joachim Löw, nachdem er das Podium im Pressezentrum erklommen hatte. Der niemiecka Selekcjoner Joachima Loewa, auf Deutsch "Bundestrainer" genannt, weiß ja, was sich für höfliche Gäste gehört: zum Beispiel ein Gruß in der Landessprache. Ein schlichtes "Guten Tag" auf Polnisch hinterlässt bereits bleibenden Eindruck. Fragen des guten respektive des richtigen Benehmens bildeten im Übrigen ein wichtiges Thema bei Löws Regierungserklärung zwei Tage vor dem ersten Turnierspiel, am Samstag in der ukrainischen Stadt Lemberg gegen Portugal.

EURO 2012 - Deutschland Training

Nicht nur im Vorwärtsdrang schwer zu stoppen: Jérôme Boateng bei einer Trainingseinheit in Danzig in dieser Woche, gezügelt von Mario Gomez (r.).

(Foto: dpa)

Es ging um eine Sache, die sich eher am Rande abgespielt hatte, seit Wochenbeginn aber im Mittelpunkt der deutschen Boulevardmedien verhandelt wird: Um den nächtlichen Ausflug durch Berlin, den der Nationalspieler Jérôme Boateng vor der Abreise nach Polen unternommen hatte. Die Nachwirkungen dieses Amüsements werden Boateng bis auf den Platz in Lemberg verfolgen, wo er gleich zwei Aufgaben zu erfüllen hat: Er muss die Kreise seines mutmaßlichen Gegenspielers Cristiano Ronaldo einengen, und er muss sich der Bewährung würdig erweisen, die ihm der Bundestrainer in seinem Richterspruch über die Berliner Disziplinverfehlung erteilt hat.

Die Bilder, die von Boatengs Treffen mit einem geringfügig prominenten Illustriertenmodel entstanden und großformatig in Bild abgedruckt wurden, beschäftigen den Verband an verschiedenen Stellen. Im Namen des DFB meldeten sich die drei Vizepräsidenten Henning Korfmacher, Rolf Hocke und Hans-Dieter Drewitz kritisch zu Wort.

"Eine optimale Vorbereitung auf ein Turnier sieht für mich möglicherweise anders aus", sagte Hocke zu Sport Bild, während seine Präsidiumskollegen drohende Imageprobleme ansprachen: "Wenn es schief geht, werden die Fotos sofort rausgekramt", so Korfmacher. Zumal sich die Funktionäre auch an dem Foto störten, das ein Paparazzo während Bastian Schweinsteigers Wochenendtrip nach Capri geschossen hatte; für bunte Blätter ist dieses Bild ein wahres Festmotiv: Schweinsteiger neben seiner Freundin bei Sonnenschein im Liegestuhl - was könnte schöner sein?

Oliver Bierhoff, Teammanager der Nationalelf und ebenfalls Präsidiumsmitglied, nahm Schweinsteiger jedoch in Schutz. Die Reise sei in allen Einzelheiten abgesprochen gewesen, "das beschäftigt mich und die sportliche Leitung nicht".

"Selbstverständlich hat er eine Bringschuld!"

Jérôme Boateng hingegen hat längst erfahren müssen, dass sein Verhalten nicht nur den Vize-Präsidenten missfallen hat. Löw berichtete, er habe deswegen im Laufe der vergangenen Tage ein Gespräch mit dem Münchner Verteidiger geführt. Das Ergebnis der Unterredung gab er in fünf Worten wieder: "Selbstverständlich hat er eine Bringschuld!", rief Löw mit einer Vehemenz aus, die geeignet war, dösende Zuhörer augenblicklich aufzuwecken: "Dass mir das nicht gefallen hat, das ist selbstverständlich."

Während Eingeweihte immer noch darüber staunen und lästern, wie sich Boateng in eine offensichtliche PR-Falle hat locken lassen, stört sich Löw vor allem am Zeitpunkt des Vorfalls. Zwar durfte Boateng formell seine Freizeit bis zum Sammeln vor dem Abflug genießen, für sein unprofessionelles Verhalten hat der Coach aber trotzdem kein Verständnis. Dann kann er barsch werden. Die Last der "Bringschuld" hatte im Juni 2008 auch Schweinsteiger nach seinem unsinnigen Platzverweis im EM-Spiel gegen Kroatien tragen müssen; auch damals hatte Löw den Begriff benutzt, um eine unmissverständliche Warnung auszusprechen.

Schweinsteiger kehrte damals glanzvoll zurück, schoss beim 3:2-Sieg gegen Portugal im Viertelfinale die Tore zum 1:0 und 2:0, und an den Kiosken hieß es: "Wiedergeburt eines Superstars". Auf solche Schlagzeilen braucht Boateng vorerst nicht zu spekulieren, aber er darf zumindest darauf vertrauen, dass ihn Löw am Samstag als Rechtsverteidiger mitspielen lässt, nachdem er beschlossen hat, Philipp Lahm während des Turniers weiterhin auf der linken Seite zu verwenden.

Was Lahm selbst betrifft, soll der Grundsatzbeschluss bis zum guten oder bitteren Ende gelten. Boatengs Stelle kann hingegen jederzeit neu ausgeschrieben werden, Löw hat schon eine geeignete Alternative gesichtet: Während der Trainingsstunden in Polen habe er festgestellt, "dass auch Lars Bender diese Position sehr gut bekleiden kann". Es stört den Trainer nicht, dass Bender in Leverkusen zwar schon sämtliche Positionen im Mittelfeld bis hinein in den Angriff besetzt, dass er aber noch nie sein Glück als Rechtsverteidiger versucht hat.

Löw hat sich längst angewöhnt, vor allem seinen eigenen Beobachtungen und Ideen zu vertrauen. Auch für Marco Reus hat er bereits ein neues Rollenbild als Mittelstürmer erfunden, "er macht das hervorragend", findet der Bundestrainer.

Reus wird dennoch auf der Bank Platz nehmen, gegen die von Löw außerordentlich geschätzten Portugiesen ist eine konservative Formation zu erwarten, die maximale Turniererfahrung mitbringt und auf der klassischen Achse aufbaut. Hinten Mertesacker, in der Mitte Schweinsteiger, vorne Klose. Alle drei hatten zuletzt Fitnessprobleme, aber Löw hat sie auf dem Trainingsplatz als "stabil" empfunden. Vorbehalte sind stillschweigend inbegriffen, aber bis zum Beweis des Gegenteils darf die Einschätzung als Einsatzgarantie gelten.

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