Bundestrainer Joachim Löw:Aus dem Fundi wird ein Realo

Pure Schönspielerei war gestern: Nicht nur die deutsche Nationalmannschaft hat inzwischen ihr Repertoire erweitert, sondern auch Bundestrainer Joachim Löw. Zählte für ihn früher nur die Leistung auf dem Platz, setzt er heute auch auf andere Tugenden. Vor Jahren war dies noch kaum vorstellbar.

Christof Kneer

Man kann ja mal versuchen, sich das vorzustellen. Es ist der 1. Juli, in Kiew läuft das Endspiel der EM, und Joachim Löw leidet. Er steht draußen an der Seitenlinie und muss mit ansehen, wie seine Spieler drinnen lauter Tabus brechen. Wie sie lange Bälle nach vorne hauen, grätschen oder nach Ballverlust zurückweichen, anstatt sich gleich wieder auf den Gegner zu stürzen. Man könnte sich weiter vorstellen, dass der großartige Manuel Neuer alles hält, und dass das, was er nicht hält, vom überlegenen Gegner fahrlässig vergeben wird.

Training deutsche Fussball-Nationalmannschaft

Bundestrainer Joachim Löw: Mit neuen Tugenden zum EM-Titel

(Foto: dapd)

Für die Geschichte spielt es keine Rolle, ob der Gegner Spanien, Frankreich oder Griechenland heißt, wichtig wäre allein, die Geschichte in folgendem Szenario enden zu lassen: In der Schlussminute setzt Özil, Kroos, Schürrle oder wer auch immer einen Verzweiflungsschuss ab, 28 oder 32 Meter vom Tor der Spanier, Franzosen oder Griechen entfernt. Der völlig missratene Schuss begegnet unterwegs einem Abwehrbein, eine reine Zufallsbekanntschaft, aber das Abwehrbein lenkt den Ball unhaltbar in die äußerste Torecke. Eins-null. Schlusspfiff. Deutschland ist Europameister.

Joachim Löw? Was macht jetzt Joachim Löw?

Schon klar, dieses Szenario ist so unwahrscheinlich wie das Szenario, dass Otto Rehhagel demnächst Journalist wird. Aber zum tieferen Verständnis des Bundestrainers Löw wäre es schon erhellend, seine Reaktion an der Seitenlinie zu verfolgen.

Löw ist selbstbewusst geworden

Würde er, was menschlich und deshalb wahrscheinlich ist, einen Freudensprung raushauen, dass Jürgen Klopp dagegen wie ein Stehgeiger aussieht? Würde er all seine Flicks, Köpkes, Bierhoffs in ein enthemmtes Jubelknäuel verwickeln, bei dem Arme, Beine und Köpfe bald nicht mehr zuzuordnen wären? Oder würde Löw kurz die Faust ballen, kurz lächeln und dann kopfschüttelnd in die Kabine gehen, um dieses verboten schwache Spiel aufzuarbeiten?

Joachim Löw würde diesen Titel schon nehmen, so ist es nicht. Jupp Derwall ist Europameister geworden, sogar Berti Vogts - muss man da nicht verlangen dürfen, dass auch der viel planvollere, viel präzisere Löw als Meistertrainer in die Geschichte eingeht? Auch wenn er den Titel nur einem wenig planvollen und sehr unpräzisen Fernschuss zu verdanken hätte? Löw wäre ein verdienter Sieger, das würde er übrigens auch selbst so sehen. Er hat ein recht kompaktes Selbstbewusstsein entwickelt seit der Zeit, als ein Weltstar namens Klinsmann das südbadische Trainerle zu seinem Gehilfen bestimmte.

Löw würde schmunzeln, würde man ihm mit diesem Sieg-durch-Glücksschuss-Szenario konfrontieren. Er weiß ja, dass ein Löw-Team so niemals spielen würde. Er weiß aber auch, dass einige in der Branche inzwischen leise die Frage stellen, ob dieser modische Fußball für mehr als dritte oder zweite Plätze taugt. Denn dies ist ja das Muster, das hinter den jüngsten Turnieren hervorleuchtet: WM 2006 - Dritter; EM 2008 - Zweiter; WM 2010 - Dritter.

Immer, wenn es zum Schwur kam, wurden in der Heimat die Großleinwände abgeschraubt und die Fanmeilen in normale Straßen zurückgebaut. Immer, wenn es ernst wurde, war der Spaß vorbei.

Mehr als ein Schönwetter-Coach

Ein deutscher Nationaltrainer habe "die Pflicht, auch mal einen Titel zu gewinnen", hat Berti Vogts pünktlich zum Start der EM gesagt - jener Vogts, in dessen Regentschaft der deutsche Fußball aus der Zeit fiel. In den Neunzigerjahren hat der Deutsche Fußball-Bund die Disziplinen "Aufzucht und Hege" derart vernachlässigt, dass es bei zwei Europameisterschaften (2000, 2004) mit überalterten Kadern und rückständigen Spielkonzepten zum kompletten Systemabsturz kam.

Es zählt längst zum Allgemeinwissen, dass dem deutschen Fußball in dieser Phase nichts Besseres passieren konnte als Joachim Löw. Er hat dem deutschen Fußball das Leben gerettet, und dennoch spürt der Bundestrainer, dass er allmählich dem Verdacht entgegenwirken muss, er sei nur ein Schönwetter-Coach.

Löw steht dazu, dass er gewaltlos siegen will, er will keine Rumpel- und Runzelfüße, sondern welche, die frisch von der Pediküre kommen. Aber wer genau hinsieht, der erkennt, dass nicht nur die junge Mannschaft in den vergangenen Jahren gewachsen ist, sondern auch dieser Trainer.

Neues Faible für Standardsituationen

Der Fußballtrainer Löw träumt immer noch von der idealen Welt, er ist immer noch ein Fundamentalist, aber inzwischen verrät sein Regierungsstil auch deutliche Züge eines Realpolitikers; nicht nur, weil der ehemals "nette Herr Löw" seinen Kader inzwischen straff zu führen versteht. In einer Pressekonferenz im Trainingslager staunten Löw-Kenner nicht schlecht, als sie ihn wie selbstverständlich über "Führungsspieler", "Leadership" und "Gewinnertypen" referieren hörten.

Still und heimlich hat Löw diese Sekundärtugenden, die er lange als antik und verstaubt verachtete, in sein Weltbild eingepasst. Auch sein erstaunlich klares Plädoyer für Spieler mit Turniererfahrung ("die Dortmunder sind international noch nicht so erprobt wie die Bayern") weist auf einen Pragmatismus, den ihm lange keiner zugetraut hätte. Und angeblich will er im EM-Quartier in Danzig jetzt sogar Standardsituationen üben lassen - jenes Stilmittel, dem er doch eigentlich hartnäckig misstraut, weil er in ihm ein Relikt der Rumpel-Ära erkennt.

Durch Löw sind Titel wieder möglich

Kann Löw nur Fußball, oder kann er auch Titel? Es wäre unfair, würde man ihn jetzt schon mit dieser kompromittierenden Frage behelligen. Es ist ja eine historische Unanständigkeit, dass seine Zeit als Bundestrainer ausgerechnet in die Ära der übermächtigen Spanier fällt.

Löw hat mit seiner Arbeit die Voraussetzungen geschaffen, dass Titel wieder möglich sind. Seine Spieler sind sehr jung und schon sehr versiert, und je mehr von ihnen sich durch die Nationalelf für Klubs wie Real Madrid qualifizieren, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie sich draußen in der großen Welt die Reflexe des Siegens aneignen.

Er habe seine Spieler angewiesen, jetzt nicht mehr vom Titelgewinn zu reden, sagt Löw, es zähle jetzt nur noch die Auftaktpartie gegen Portugal. Das ist keine falsch verstandene Demut, es ist auch nicht die mangelnde Gier eines verkopften Konzepttrainers - es ist die souveräne Vorgabe eines Coaches, dem man ein Gespür für seine Mannschaft zutrauen kann. Es ist eine klassische Führungsstrategie: Als Überschrift bleibt das Ziel "Titel" bestehen, aber nun, da das Turnier beginnt, lenkt der pragmatische Fundamentalist den Blick zunächst mal auf das erste Kapitel.

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