Bundestrainer Joachim Löw:Mehr als ein Schönwetter-Coach

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Ein deutscher Nationaltrainer habe "die Pflicht, auch mal einen Titel zu gewinnen", hat Berti Vogts pünktlich zum Start der EM gesagt - jener Vogts, in dessen Regentschaft der deutsche Fußball aus der Zeit fiel. In den Neunzigerjahren hat der Deutsche Fußball-Bund die Disziplinen "Aufzucht und Hege" derart vernachlässigt, dass es bei zwei Europameisterschaften (2000, 2004) mit überalterten Kadern und rückständigen Spielkonzepten zum kompletten Systemabsturz kam.

Es zählt längst zum Allgemeinwissen, dass dem deutschen Fußball in dieser Phase nichts Besseres passieren konnte als Joachim Löw. Er hat dem deutschen Fußball das Leben gerettet, und dennoch spürt der Bundestrainer, dass er allmählich dem Verdacht entgegenwirken muss, er sei nur ein Schönwetter-Coach.

Löw steht dazu, dass er gewaltlos siegen will, er will keine Rumpel- und Runzelfüße, sondern welche, die frisch von der Pediküre kommen. Aber wer genau hinsieht, der erkennt, dass nicht nur die junge Mannschaft in den vergangenen Jahren gewachsen ist, sondern auch dieser Trainer.

Neues Faible für Standardsituationen

Der Fußballtrainer Löw träumt immer noch von der idealen Welt, er ist immer noch ein Fundamentalist, aber inzwischen verrät sein Regierungsstil auch deutliche Züge eines Realpolitikers; nicht nur, weil der ehemals "nette Herr Löw" seinen Kader inzwischen straff zu führen versteht. In einer Pressekonferenz im Trainingslager staunten Löw-Kenner nicht schlecht, als sie ihn wie selbstverständlich über "Führungsspieler", "Leadership" und "Gewinnertypen" referieren hörten.

Still und heimlich hat Löw diese Sekundärtugenden, die er lange als antik und verstaubt verachtete, in sein Weltbild eingepasst. Auch sein erstaunlich klares Plädoyer für Spieler mit Turniererfahrung ("die Dortmunder sind international noch nicht so erprobt wie die Bayern") weist auf einen Pragmatismus, den ihm lange keiner zugetraut hätte. Und angeblich will er im EM-Quartier in Danzig jetzt sogar Standardsituationen üben lassen - jenes Stilmittel, dem er doch eigentlich hartnäckig misstraut, weil er in ihm ein Relikt der Rumpel-Ära erkennt.

Durch Löw sind Titel wieder möglich

Kann Löw nur Fußball, oder kann er auch Titel? Es wäre unfair, würde man ihn jetzt schon mit dieser kompromittierenden Frage behelligen. Es ist ja eine historische Unanständigkeit, dass seine Zeit als Bundestrainer ausgerechnet in die Ära der übermächtigen Spanier fällt.

Löw hat mit seiner Arbeit die Voraussetzungen geschaffen, dass Titel wieder möglich sind. Seine Spieler sind sehr jung und schon sehr versiert, und je mehr von ihnen sich durch die Nationalelf für Klubs wie Real Madrid qualifizieren, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie sich draußen in der großen Welt die Reflexe des Siegens aneignen.

Er habe seine Spieler angewiesen, jetzt nicht mehr vom Titelgewinn zu reden, sagt Löw, es zähle jetzt nur noch die Auftaktpartie gegen Portugal. Das ist keine falsch verstandene Demut, es ist auch nicht die mangelnde Gier eines verkopften Konzepttrainers - es ist die souveräne Vorgabe eines Coaches, dem man ein Gespür für seine Mannschaft zutrauen kann. Es ist eine klassische Führungsstrategie: Als Überschrift bleibt das Ziel "Titel" bestehen, aber nun, da das Turnier beginnt, lenkt der pragmatische Fundamentalist den Blick zunächst mal auf das erste Kapitel.

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