Süddeutsche Zeitung

Zuschauer in der Bundesliga:Gedämpfte Lust beim Fußballgucken

Trotz der Wiederzulassung von Publikum läuft der Ticketverkauf einiger Bundesligisten zäh - die Stimmung bleibt verhalten. Ist die Seele des Fußballs in Gefahr?

Von Ulrich Hartmann

Ilja Kaenzig, 47, war nicht überrascht: "Die Menschen sind vorsichtig geworden", sagt der Manager des Zweitligisten VfL Bochum, "und das erfordert unseren Respekt." Insofern will der Schweizer nicht hadern. Als er am Montagabend zum Saisonauftaktspiel seines Klubs gegen den FC St. Pauli fuhr, war die Castroper Straße von Fans wunderbar geschmückt worden, mit Wimpeln und Fahnen in Blau und Weiß. Aber ins Stadion, in das gemäß Corona-Verordnung 5000 Zuschauer hätten kommen dürfen, wollten nur 3421 hinein. Der Fußballfan Kaenzig bekommt da ein bisschen Bauchweh, doch der Manager Kaenzig bleibt einigermaßen nüchtern: "Wir kalkulieren seit einem halben Jahr mit Worst-Case-Szenarien", sagt er, "wir sind abgehärtet."

Bochum, im elften Jahr nacheinander Zweitligist, hat es in einer strukturschwachen Region, eingeklemmt zwischen den Bundesligastandorten Gelsenkirchen und Dortmund, ohnehin nicht ganz leicht. Aber wenn jetzt nicht mal mehr die pathologisch treuen Stammkunden ins Ruhrstadion pilgern, dann droht dem Fußball das Herz herausgerissen zu werden: "Das ist eine komplett andere Fußballkultur, das hat nicht mehr die Seele, die der Fußball normalerweise hat", sagt Kaenzig über die neue Stimmung in den Stadien - und das geht nicht nur den kleineren Vereinen so.

Der Bundesligist Borussia Mönchengladbach bietet für sein erstes Saisonheimspiel an diesem Samstag gegen Union Berlin 10 800 Tickets an, aber bis Mitte der Woche waren nur 9200 verkauft. "Wir merken, dass die Leute zum Teil zögerlicher herangehen an den Kartenkauf", sagt Geschäftsführer Stephan Schippers, "vielleicht, weil sie Respekt haben oder weil sie sich erst anschauen wollen, was bei einer Kapazität von 20 Prozent passiert." Mit der partiellen Wiederzulassung von Publikum zeigte sich zum Saisonstart eine weitere Nebenwirkung von Corona: Das Lustempfinden beim Fußballgucken ist gedämpft.

Hackerangriff auf die Arminia-Website

In Gladbach haben sie die Vorsichtsmaßnahmen so penibel umgesetzt, dass jeder Zuschauer ganz alleine sitzen muss und links und rechts je drei Sitze leer bleiben. Zudem gilt Maskenpflicht sogar beim Sitzen und Schauen. 200 Kilometer nordöstlich in Bielefeld sind die Bedingungen ein bisschen stimmungsfreundlicher, bis zu acht Menschen dürfen dort nebeneinander sitzen und dann auch die Masken abnehmen. Aber das war gewiss nicht der Grund, warum am Sonntagabend nach Beginn des Vorverkaufs für das kommende Heimspiel gegen Köln die Internetseite der Arminia zusammengebrochen ist.

"Wir haben mit zehn-, zwanzig- oder dreißigtausend Zugriffen gerechnet", sagt Arminia-Geschäftsführer Markus Rejek, "es waren dann aber weit mehr als hunderttausend." Man habe allerdings Störangriffe aus Russland und China registriert, sagt Rejek, er weiß nicht, welche Absicht dahinter steckt. Bekannt sollte sein, dass auswärtige Fans zurzeit keine Tickets bekommen, nicht mal welche aus Köln, geschweige denn aus Moskau oder Peking.

Das Interesse an der Arminia ist in Bielefeld derzeit so groß wie lange nicht mehr, denn die Partie am Samstag ist das erste Bundesligaspiel auf der Alm seit Mai 2009. Dass wegen Corona nur 5400 Menschen ins Stadion dürfen, fühlt sich für die Bielefelder besonders schlimm an. Rejek jedoch lobt die Rückkehr des Publikums als "erfreulichen ersten Schritt in eine neue Normalität". Er kämpft um die Akzeptanz dieser neuen Normalität: "Es wird Leute geben, die denken vielleicht: Ohgottohgottohgott, so wird einem ja jeder Spaß genommen, aber das glaube ich nicht - unser Ziel ist, für ein sicheres, aber auch für ein emotionales Stadionerlebnis zu sorgen." Die Freude übers erste Erstliga-Heimspiel seit elf Jahren will sich Rejek "von den ganzen Maßnahmen nicht verderben lassen". Er vertraut dabei auf einen speziellen regionalen Charakterzug: "Der Ostwestfale kann sich sehr gut kontrolliert begeistern."

Könnte die Corona-Krise die Vereine langfristig sogar stärken?

Kontrollierte Begeisterung - das könnte in Coronazeiten sogar als gesellschaftliches Motto herhalten, es gilt im Fußball aber bis auf Weiteres für Fans ebenso wie für Klubs. Wenn der Fußball nicht mehr als emotionales Ventil für alltagsgestresste Menschen fungieren darf, dann könnte die Branche dauerhaft ein Problem mit ihrem Geschäftsmodell bekommen, dann könnte es selbst nach einer Wiederzulassung voller Stadien - irgendwann - noch Jahre dauern, ehe die Stimmung wieder so wird wie sie es vor Corona zuverlässig war.

Bochums Manager Kaenzig jedoch, seit 26 Jahren im Geschäft mit Stationen in der Schweiz und Frankreich, bei Bayer Leverkusen und Hannover 96, bleibt Berufsoptimist: "Wirtschaftlich könnte Corona die Vereine langfristig sogar stärken, weil man gezwungen ist, noch effizienter zu werden als ohnehin schon", sagt er, "und emotional, glaube ich, wird die Wucht des Fußballs dann, wenn Corona im Griff ist, relativ schnell zurückkehren." Fußball sei für viele "Religion" und "Lebensinhalt". Kaenzig vertraut auf die tiefe Verwurzelung des Fußballs in der Gesellschaft. Auch da kann eine Krise stärken.

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SZ vom 25.09.2020/tbr
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