Eine knappe Stunde war in Wolfsburg gespielt, Deniz Undav wurde beim Stand von 1:1 eingewechselt, und er konnte nicht ahnen, was für eine Nebenrolle auf ihn zukommen sollte. Die Rolle des Torjägers des VfB Stuttgart kennt er zur Genüge, er hat schon 35 Fußball-Bundesligaspiele absolviert. Was Undav nicht wusste: dass er am Ende dazu beitragen sollte, die Folgen eines monumentalen Justizirrtums zu minimieren. Durch einen Treffer in der siebten Minute der Nachspielzeit, der seiner Mannschaft noch zum 2:2-Ausgleich verhalf, den VfL Wolfsburg um den ersten Heimsieg der Saison brachte – und den Schiedsrichter Sven Jablonski zumindest teilweise amnestierte.
„Er wusste gleich, dass er einen Fehler gemacht hat“, sollte VfB-Trainer Sebastian Hoeneß nach der Partie sagen, und diese Einschätzung hatte er nicht exklusiv. Den restlichen Personen, die in der Wolfsburger Arena saßen, war auch sofort klar, dass durch den Fehler „ein anderes Spiel“ entstand, wie Hoeneß erklärte. Was geschehen war? Die Kapitäne beider Mannschaften, Atakan Karazor (Stuttgart) und Maximilian Arnold (Wolfsburg), hatten im Mittelfeld um einen Ball gekämpft, und Referee Jablonski erlag einem folgenschweren Irrglauben.

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Jablonski nämlich wollte gesehen haben, dass Karazor seinen Gegenspieler fahrlässig am Knöchel getroffen hatte. Weil sich Jablonski durch ein Indiz und Arnolds Zeugenaussage bestärkt sah („der Spieler hat sich den Knöchel gehalten und mitgeteilt, dass er einen Stich gespürt hat“), zückte er Gelb-Rot. Mea culpa, sagte der Referee hinterher: „Mittlerweile habe ich die Bilder gesehen und muss feststellen, dass es Arnold war, der seinen Gegenspieler getroffen hat. Gelb-Rot war damit falsch, das ärgert mich sehr“, erklärte der Referee. Der VfB Stuttgart kündigte am Sonntag an, Einspruch gegen die automatische Sperre Karazors einzulegen. Es ehre Jablonski, dass er offen einen Irrtum eingestehe, sagte VfB-Sportvorstand Fabian Wohlgemuth der Süddeutschen Zeitung am Sonntag. Nun gelte es weitere Folgen einzudämmen. Es sei „mit dem Gedanken des Fairplays überhaupt nicht übereinzubringen, dass wir für einen eingestandenen Fehler des Schiedsrichters doppelt bestraft werden – und gegen Hoffenheim ohne unseren Kapitän antreten sollen“.
Jablonski leistete sich zudem einen zweiten groben Fehler. Knapp zehn Minuten nach der gelb-roten Karte für Karazor stürmte er mit der Hand an der Gesäßtasche auf den Wolfsburger Mohammed Amoura zu und stellte den VfL-Stürmer ebenfalls vom Platz. Glatt Rot. Diesmal durfte der VAR den Schiedsrichter auf den Fehler hinweisen (bei Gelb-Rot, wie im Falle Karazor, geben das die Regeln nicht her). Im Stile der berühmtesten Figur seiner Geburtsstadt Hameln lockte Videoschiedsrichter Johann Pfeifer seinen Kollegen Jablonski an den TV-Schirm. Die Videobilder zeigten, dass Amoura seinen Stuttgarter Gegenspieler Jamie Leweling gar nicht getroffen hatte.
Warum darf der VAR bei einer roten Karte die Szene überprüfen, aber nicht bei einer gelben?
Jablonski, verbrachte geschlagene fünf Minuten vor dem Bildschirm. Eine schlüssige Vermutung zum Grund für die lange Pause lieferte Wohlgemuth. Der Referee habe „möglicherweise einen Gerechtigkeitsausgleich im Hinterkopf gehabt“, sagte er. Übersetzt: Weil er mindestens ahnte, dass er mit dem Platzverweis gegen Karazor falsch gelegen hatte, habe Jablonski durch die rote Karte gegen Amoura einen Gleichstand herstellen wollen. So sehr die Bilder vor- und zurückgespult wurden, es ließ sich nicht einmal per Zoom beweisen, dass Amoura seinen Gegenspieler getroffen hatte. Jablonski nahm die rote Karte zurück und tauschte sie gegen eine gelbe.

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Leverkusen hat kaum den Ball, übertritt selten die Mittellinie und holt trotzdem einen Punkt in München. Der neue Bayern-Trainer zeigt, dass er seinen radikal offensiven Stil auch gegen starke Gegner durchziehen will – muss aber nun um Harry Kane bangen.
In den Augen der Stuttgarter war auch das ein Justizirrtum, diesmal infolge einer Amtsanmaßung durch den VAR. Der Platzverweis war, wie Hoeneß schlüssig darlegte, wegen der hohen Intensität, mit der Amoura „ohne Aussicht, den Ball zu treffen“, gegen Leweling einstieg, „keine klare Fehlentscheidung“. Im Sinne des Gesundheitsschutzes hätte der VAR, wenn er überhaupt eingreift, den Schiedsrichter bestärken müssen, meinte Hoeneß: „Wenn er ihn trifft, ist das Verletzungsrisiko sehr groß.“ Undav präzisierte: „Dann ist Jamie ein Jahr raus.“
Überhaupt, das Regelwerk: Dass der VAR bei einem Platzverweis wegen Rot eingreifen darf, bei einem Platzverweis wegen Gelb-Rot aber nicht, erregte das Missfallen der Beteiligten. „Ich würde mir auch bei Gelb-Rot wünschen, dass wir die Chance haben, zum Bildschirm zu gehen“, sagte Jablonski. Damit wäre zwar nur der eklatanteste aller Fehler behoben, das Spiel aber vielleicht gerettet worden.
Wolfsburgs Ridle Baku vergibt erst spektakulär – und lässt dann die Flanke auf Undav zu
Es hatte mit einem vielversprechenden Auftritt der Stuttgarter begonnen; der Wolfsburger Vortrag war so minimalistisch, dass man meinen wollte, die Profis der VW-Filiale VfL Wolfsburg erklärten sich durch eine Art fußballerischen Bummelstreik solidarisch mit den Beschäftigten des Hauptwerks. Die Bosse der Volkswagen AG wollen die Arbeiter des Autobauers für Managementfehler der Vergangenheit bluten lassen. Aber nicht nur Vorstandsmillionäre, auch Fußballprofis leisten sich konzeptionelle Fehler.
Im Falle der Stuttgarter war das ein Innenverteidiger, der einen Einwurf ausführte und das Abwehrzentrum entblößte. VfL-Stürmer Amoura nahm die Einladung an, löste einen sogenannten Umschaltmoment aus und legte quer auf Jonas Wind, der zur völlig überraschenden Führung abschloss (20.). Zwölf Minuten später glich Enzo Millot aus, nach einem mittelmäßig geschossenen Foulelfmeter traf der Franzose im Nachschuss. Doch Wolfsburg ging neuerlich in Führung, als Stuttgart noch mit besagtem Platzverweis gegen Karazor haderte, wieder durch einen Umschaltmoment, den diesmal Amoura nutzte (68.).
Doch nachdem Wolfsburgs eingewechselter Ridle Baku eine Großchance zum möglichen Wolfsburger 3:1 spektakulär vergab, war er defensiv nicht auf der Höhe. Baku machte eine Flanke von Maximilian Mittelstädt auf Undav möglich. Und der DFB-Stürmer vollendete aus vergleichsweise unmöglichem Winkel ein Werk übergeordneter Gerechtigkeit.