Verletzte Fußballprofis:Die längste Zielgerade der Welt

Verletzte Fußballprofis: Niklas Süle, Marco Reus und Kevin Volland

Niklas Süle, Marco Reus und Kevin Volland

(Foto: Reuters, dpa, dpa)
  • Die Unterbrechung des Spielbetriebs verschafft vielen verletzten Profis die Zeit für ein Comeback: Sollte die Saison fortgesetzt werden, könnten sie ihren Klubs noch helfen.
  • Dazu gehören etwa Bayerns Niklas Süle, Dortmunds Marco Reus, Leverkusens Kevin Volland oder auch weniger bekannte Spieler wie Stuttgarts Talent Sasa Kalajdzic.
  • Doch die Spieler kennen auch die Risiken und Nebenwirkungen: Sollte der Fußball wieder Fahrt aufnehmen, wird er seine Sportler zur Akkordarbeit zwingen.

Von Christof Kneer

Ende Juni ist es noch gut ausgegangen für Sasa Kalajdzic. Im Vorrundenspiel der U 21-EM 2019 kam plötzlich der deutsche Torwart Alexander Nübel angesprungen, er zog beim Absprung das Knie an, und für Kalajdzic war es durchaus blöd, dass sich sein Kopf in der Flugbahn befand. Kopf und Knie trafen sich im Luftraum über Udine, der Kopf gab nach, der Besitzer des Kopfes sackte zusammen - kurz wurde es still im Stadion, aber es folgte ein Aufatmen, das man durchaus "groß" nennen darf.

Denn das ist ja das Gute an Sasa Kalajdzic: Man kann ihn nicht übersehen. Zwei Meter misst der junge Österreicher, und wenn er wieder aufsteht, sieht man das selbst aus entfernteren Lufträumen. Es gab Elfmeter für Österreich, der Ball ging rein, das Spiel endete 1:1. Kalajdzic hat danach gute Kritiken bekommen, nicht nur für die Robustheit seines Schädels, sondern auch für seine interessante Art zu spielen. Er spielt ganz anders, als man es einem Riesen unterstellt. Im Schlachtengetümmel erwischt man ihn nur, wenn ihm versehentlich ein Knie entgegenkommt. Kalajdzic ist ein feiner Techniker, kein roher Brecher - und, wie man jetzt weiß, keineswegs unverwundbar.

Süle, Reus, Volland und Stuttgarts fast vergessener Sasa Kalajdzic: Alle spekulieren noch auf Einsätze

Vor allem in Stuttgart haben sie schmerzhaft lernen müssen, dass man diesen Zwei-Meter-Mann eben doch übersehen kann. So stolz waren sie ja beim Absteiger VfB, dass sie sich dieses europaweit umschwärmte Sturmtalent im vorigen Sommer für ihre Zweitliga-Elf sichern konnten, aber der außerhalb Stuttgarts wohnhafte Teil der Menschheit hat von diesem Wechsel womöglich bis heute nichts mitbekommen. Ende Juli ging es nämlich gar nicht mehr gut aus. In einem Testspiel rissen Kalajdzic das Kreuzband, das Innenband und den Außenmeniskus. "Totalschaden im Knie" ist als medizinischer Fachbegriff in etwa genauso präzise.

"Ich hatte schon ein paar Verletzungen in meiner Karriere, aber so eine noch nie", sagt Sasa Kalajdzic am Telefon, "diese Verletzung war das Kirscherl auf dem Eisbecher." Er klingt gut gelaunt, bauartbedingt möglicherweise, aber eben auch, weil er inzwischen auch einen optimistischen Satz wie diesen sagen kann: "Vielleicht kann ich der Mannschaft im Saison-Endspurt jetzt doch noch ein bisserl helfen." Dass er diesen Satz einmal sagen würde, hat er vielleicht am Anfang der Diagnose noch gedacht, "da habe ich gehofft, dass ich früher fit werde". Aber er hat dann diese doch sehr unsympathische Verletzung kennengelernt, sie leistete erheblichen Widerstand, und irgendwann war ihm klar: Das würde wohl nichts mehr werden in seinem ersten Jahr in Deutschland. Wobei: Vielleicht könnte er im Mai noch ein paar Minuten spielen, als Kirscherl auf dem Eisbecher?

Kalajdzic, 22, ist vielleicht der krasseste Fall, ihn haben viele ja nicht mal vermisst, weil sie gar nicht wussten oder zumindest vergessen haben, dass er überhaupt da ist. Davon abgesehen steht der Österreicher exemplarisch für eine ganze Elf von Spielern, die inzwischen ebenfalls voller Optimismus diesen Satz sagen, von dem sie nie dachten, dass sie ihn mal sagen würden.

Bis Corona kam. Und damit plötzlich die Aussicht, dass die Saison bis Ende Juni oder sogar noch viel länger geht.

"Ich will diese Saison noch mal richtig eingreifen. Ich denke, dass ich im Mai wieder bereit wäre, mit dem Team zu trainieren." Das hat Leverkusens Stürmer Kevin Volland (Syndesmosebandriss im linken Sprunggelenk) gerade gesagt.

"Mir kommt die Pause schon zugute. Ich kann meine Verletzung besser auskurieren und hoffe, bald wieder auf dem Platz zu stehen." Dieser Satz stammt von Dortmunds Marco Reus, der an einer langwierigen Muskelverletzung leidet.

"Je später diese Saison wieder anfängt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch mal eingreife." Diese vorsichtige Prognose hat sich der Bremer Stürmer Niclas Füllkrug zugetraut, einer der bemitleidenwertesten Patienten der Liga (Kreuzbandriss inklusive Rückschlag).

Das Problem: Für empfindliche Körper könnten nun irre anstrengende Monate bevorstehen

Und vom Schalker Trainer David Wagner ist die Aussage überliefert, dass er inzwischen "große Comeback-Hoffnungen" hege - und zwar nicht nur bei Daniel Caligiuri (Teilriss des Innenbandes), Suat Serdar (Zehenanbruch), Salif Sané (Korbhenkelriss im Außenmeniskus) und Benjamin Stambouli (Bruch eines Fußwurzelknochens). Sondern auch bei Mittelfeldspieler Omar Mascarell und Verteidiger Ozan Kabak, für die diese Saison längst unrettbar verloren schien. Der Grund: ein Sehnenriss an den Adduktoren (Mascarell) sowie Querfortsatzfrakturen des zweiten, dritten und vierten Lendenwirbelkörpers (Kabak).

So und ähnlich sprechen gerade viele Spieler in der Liga, all das gilt ja auch für den Bayern Niklas Süle, die Leipziger Willi Orban und Ibrahima Konaté, den Leverkusener Nadiem Amiri, den Hoffenheimer Munas Dabbur und einige mehr. Die wenigsten von ihnen haben damit gerechnet, dass sie auf der Zielgerade der Saison noch mal loslaufen könnten, aber nun, da das Virus das Rennen gestoppt hat, ist daraus die längste Zielgerade der Welt geworden.

"Dass die Saison ausgesetzt ist, ist wegen der Umstände natürlich traurig", sagt stellvertretend Sasa Kalajdzic, "aber sportlich gesehen ist die Pause von Vorteil."

Fußballprofis haben schon viel erlebt, aber so etwas Groteskes bestimmt noch nicht: Dass sie sich als Sportler über Umstände freuen müssen, über die sie sich als Menschen Sorgen machen. Und dass sie vielleicht bald in ein Mannschaftstraining zurückkehren, aber möglicherweise ohne Mannschaft, die aufgrund dieser Umstände aus lauter versprengten Vierergruppen besteht und über diverse Trainingsplätze zusammengesammelt werden muss. Und übrigens: Dass diese Zielgerade überhaupt eine Zielgerade ist, ist ja auch noch nicht sicher. Vielleicht ist das Rennen auch schon vorbei, und es weiß nur noch niemand.

Niemand hat gern eine langwierige Muskelverletzung; ein Bruch des Fußwurzelknochens zählt ebenfalls nicht zu den bevorzugten Saisonzielen, auch ein Korbhenkelriss im Außenmeniskus gilt als nicht erstrebenswert. Dennoch wirkt es fast so, als würden Spieler und Trainer ein gewisses Geborgenheitsgefühl empfinden, wenn sie gerade über Verletzungen und Comeback-Prognosen sprechen. Es simuliert ein bisschen Alltag. Damit kennen sie sich aus.

Natürlich hört man jetzt auch in anderen Sprachen solche Comeback-Sätze, Tottenhams Harry Kane oder die Barcelona-Profis Luis Suárez und Ousmane Dembélé sind die prominentesten Fälle. Je nach Länge der Zielgerade könnten auch sie noch zurückkehren, und den Nationalspielern ermöglicht das Virus sogar eine Teilnahme an der verschobenen EM im Sommer 2021.

Aber natürlich kennen die Spieler auch die Risiken und Nebenwirkungen: Sollte der Fußball wieder Fahrt aufnehmen, wird er seine Sportler zur Akkordarbeit zwingen, das verpasste Programm muss nachgeholt werden, der bewährte Rhythmus ändert sich, die Sommerpause wird kürzer und kommt vielleicht im Herbst. Empfindlichen Rekonvaleszenten-Körpern könnten irre anstrengende Monate bevorstehen. Man dürfe deshalb nichts überstürzen, sagt Sasa Kalajdzic, "wir müssen alle vorsichtig bleiben". Er braucht nun wirklich kein Kirscherl auf dem Eisbecher mehr.

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