Bundesliga:Verfluchtes Leverkusen

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Der Schmerz ist kaum auszuhalten: Der schwer verletzte Santiago Arias erfährt Zuspruch durch kolumbianische Mitspieler. (Foto: Gabriel Aponte/AFP)

Zugang Santiago Arias verletzt sich schwer. Er ist das nächste Opfer einer unheimlichen Serie beim Werksklub. Nun machen sich die Misserfolge auf dem Transfermarkt bemerkbar.

Von Milan Pavlovic, Leverkusen

Die erste Reaktion von Darwin Machis: Bloß weg! Nicht hingucken, sonst wird mir schlecht. Wie sollte sich da also Santiago Arias fühlen, der auf dem Boden liegen blieb, schreiend und sich windend? Der kolumbianische Verteidiger hatte im WM-Qualifikationsspiel gegen Venezuela gerade einen Zweikampf gewonnen, aber seine Gesundheit ruiniert, weil er sich bei dem - fair geführten - Duell mit Machis verletzte. Bilder, die an die schlimmen Szenen mit Tennisprofi Michael Stich (1995 in Wien) oder Dänemarks Fußballer Henrik Andersen (EM 1992) heranreichen.

Die erste Diagnose bei Arias: Bruch des linken Wadenbeins, Syndesmoseriss, zudem weitere komplexe Bandverletzungen im linken Sprunggelenk. Ein halbes Jahr, erwarten Ärzte, muss der 28-Jährige nach der anstehenden OP in Madrid aussetzen, was fast untertrieben wirkt, wenn man den schmerzhaften Anatomiekurs für Anfänger hinter sich gebracht hat.

"Ich bin traurig über die Situation", ließ Arias via Instagram wissen. "Dies ist eine weitere Prüfung, die es zu bestehen gilt und die mich stärker machen wird. Ich verspreche, hart dafür zu arbeiten, schnell und stärker zurückzukehren und wieder die Farben von Kolumbien und meines Vereins Bayer Leverkusen zu tragen", zu dem er gerade mal vor zwei Wochen auf Leihbasis gestoßen war. "Ich bin geschockt", sagte Geschäftsführer Rudi Völler angesichts der Bilder. "Diese schlimme Verletzung tut uns sehr leid", gab Sportdirektor Simon Rolfes zu Protokoll: "Santiago ist mit großen Ambitionen zu uns gekommen, das ist ein heftiger Schlag für ihn." Rolfes ist zu gut erzogen, um von einem Schlag für den Verein zu sprechen. Dabei ist auch diese Sichtweise legitim.

Es ist keine vier Monate her, dass Bayer Leverkusen deutschland-, wenn nicht gar europaweit beneidet wurde. Der Werksklub hatte noch in drei Wettbewerben gute Aussichten. Das Personal griff nach einem nationalen Titel (DFB-Pokal) und quasi vor der Haustür, in Köln, nach einem internationalen (Europa League). In der Bundesliga war die erneute Champions-League-Qualifikation gut möglich. Insgeheim hofften die Verantwortlichen, das Eigengewächs Kai Havertz doch noch halten zu können - und dann mit einem stolzen offensiven Kader noch größere Ziele in Angriff zu nehmen. Das war Ende Juni. Was seitdem geschah, ist eine Serie von Rückschlägen, die glauben lässt, Bayer wäre von einem Voodoo-Fluch getroffen worden.

Selbstverschuldet war dabei nur, dass der vierte Platz in der Liga verpasst wurde - eine Liga-Bestmarke für Tabellenplatz fünf (63 Punkte) reichte nicht, um Mönchengladbach zu überflügeln, im entscheidenden Match in Berlin (0:2) überfiel die Spieler mal wieder die legendäre Bayer-Lethargie. Blieben noch zwei Wettbewerbe. Doch vier Tage vor dem Pokalfinale in Berlin riss bei dem Brasilianer Paulinho, der nach längerer Eingewöhnungsphase endlich am Rhein angekommen war, ein Kreuzband - das spektakuläre Endspiel gegen den FC Bayern ging mit 2:4 verloren.

Blieb noch eine Chance auf einen Titel und damit ein Argument, Havertz zum Bleiben zu überreden. Doch Inter Mailand war dann mindestens eine Nummer zu groß (1:2), und so endete eine im Grunde gute Saison mit drei frustrierenden Ergebnissen, sozusagen eine Wiederholung der Saison 2001/2002, als der Klub es schaffte, in drei Wettbewerben Zweiter zu werden.

Es begann die Zeit des Handelns und des Handels, in der Simon Rolfes durch den auf mindestens 80 Millionen Euro taxierten Verkauf von Kai Havertz an den FC Chelsea scheinbar viele Trümpfe in der Hand hielt. Aber erstens hatte der Klub schon im Vorgriff auf diesen Transfer einige voluminöse Wechsel vorgenommen (u.a. Kerem Demirbay, Edmond Tapsoba, Exequiel Palacios), und zweitens wussten die Gesprächspartner sehr wohl um die Einkünfte von Bayer 04 und setzten die Latte entsprechend höher. Als es dann auch noch Kevin Volland nach Frankreich zog, sah die Bayer-Offensive plötzlich gar nicht mehr so luxuriös aus, zumal einige Verbliebene (z.B. Leon Bailey) unzufrieden waren.

Trainer Peter Bosz erklärte zuletzt nachvollziehbar, warum Mario Götze nicht geholt wurde ("Auf der Position haben wir auch den jungen Florian Wirtz rumlaufen"). Und immerhin wurde Stürmer Patrik Schick verpflichtet (für nahezu 27 Millionen Euro). Bosz mahnte angesichts von 60 verlorenen Scorerpunkten dennoch: "Schick allein wird nicht reichen." Und prompt zogen sich der Tscheche (kurz nach seinem ersten Liga-Tor) sowie Flügelflitzer Moussa Diaby Muskelfaserrisse zu. Dennoch blieben die Leverkusener Bemühungen um den Bremer Milot Rashica sonderbar halbherzig, gerade auch in der Phase, als das Transferfenster sich schloss. In der Defensive wiederum blieb die Schwachstelle rechts bestehen. Um dem verletzungsanfälligen Lars Bender rechts ein paar Pausen zu ermöglichen, war Arias von Atlético Madrid verpflichtet worden. Ein Happy End erwuchs daraus nicht.

Zunächst zumindest. Denn Geschichte wiederholt sich in Varianten: Als Bayer 04 vor fünf Jahren den Chilenen Charles Aránguiz an den Rhein lotste, zwang diesen direkt zum Saisonstart ein Riss der Achillessehne zu einer einjährigen Pause. Heute ist Aránguiz einer der wichtigsten Spieler in Leverkusen.

© SZ vom 12.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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