Süddeutsche Zeitung

Fußball-Transfermarkt:Die Zeit für Bastler und Strategen

  • Normalerweise würde jetzt der Transfermarkt Fahrt aufnehmen. Nun stellen sich dem Fußball neue Fragen.
  • Kann es den großen Deal in Zeiten von Corona überhaupt noch geben?
  • Auf dem Transfermarkt seien im Sommer "Strategen und Bastler" gefragt, sagt ein Spielerbörsenhändler.

Von Christof Kneer und Philipp Selldorf

Der Transfermarkt beginne sich erst zu bewegen, "wenn der Ball wieder rollt", sagt Rudi Völler. Kaum einer verfolgt die Branche so lange wie der Sportchef von Bayer Leverkusen, aber so etwas hat auch der bekennende Superroutinier Völler noch nicht erlebt: ein Virus, das den Fußball lahmlegt - inklusive aller einschlägigen Aktivitäten. Werden die Klubs in Zeiten der epidemiebedingten Finanzkrise überhaupt noch genügend Geld für Ablösesummen, Gehälter und Beraterprovisionen haben? Wird es im Sommer überhaupt einen Transfermarkt geben? Und wenn ja, wird er noch wiederzuerkennen sein? Eine Prognose in sieben Kapiteln.

1. Der große Deal

So wie Rudi Völler früher nicht aufhören wollte, Michael Ballack als torgefährlichsten Mittelfeldspieler Europas zu rühmen, so ist er heute jederzeit dazu bereit, seine Ansicht zum Stellenwert von Kai Havertz zu wiederholen: Havertz, 20, sei "der beste deutsche Nationalspieler der nächsten zehn Jahre", wagt er zu prophezeien. Der torgefährliche Mittelfeldspieler wurde bis zuletzt als designierte Top-Personalie des Sommermarktes gehandelt, und mit Blick auf den scheinbar zwangsläufig anstehenden Deal haben sie in Leverkusen längst begonnen, Teile der avisierten 100 Havertz-Millionen auszugeben. Vorigen Sommer leistete man sich Kerem Demirbay für optimistische 32 Millionen Euro, für die Wintereinkäufe Ezequiel Palacios und Edmond Tapsoba gab man 40 Millionen Euro aus. Doch dann kam das Virus, und nach Lage der Dinge wird der Name "Havertz" nun dafür stehen, dass es im Sommer keinen 100-Millionen-Deal geben wird, nirgendwo. Auch die Engländer leiden ja massiv unter dem ausbleibenden TV-Geld.

Wäre Bayer ein Verein wie viele andere, hätte Bayer jetzt ein Problem. Man hätte auf die spekulierte Einnahme gewettet, das Geld schon fröhlich rausgehauen und säße nun in einnahmelosen Zeiten auf den Kosten. Aber Völler sieht kein Problem. Ja, bestätigt er, die Winterkäufe hätten "mit Kai zu tun gehabt - aber nicht nur". In den Vorjahren sei ein hohes Plus erwirtschaftet worden. Bayer müsse Havertz nicht zum Sonderpreis verkaufen, um die Liquidität zu sichern, und auch der Spieler fühlt sich offenbar zu nichts gedrängt. Völler sagt: "Kai ist 20 Jahre alt und hat noch mindestens zehn wunderbare Jahre vor sich."

2. Der auslaufende Vertrag

Mario Götze, 27, nahm zuletzt nur noch sporadisch am Spielgeschehen teil, aber sein weltberühmter Name taugt allemal für ein paar aufsehenerregende Meldungen. Der Wahrheitsgehalt ist allerdings in mindestens neuneinhalb von zehn Fällen dringend anzuzweifeln. Zum Beispiel war es eine Falschmeldung, dass ihm Borussia Dortmund im Winter angeboten hätte, den auslaufenden Vertrag zu verlängern, weshalb es ebenso nicht der Wahrheit entsprach, dass er diese Offerte zurückwies, weil ihm die offerierten sieben Millionen Jahresgehalt nicht genügten. Da ihm der BVB kein Angebot gemacht hatte, konnte er auch keines ablehnen. Richtig ist hingegen, dass sich die Wege der Parteien trennen werden und Götze im Sommer ablösefrei zu haben ist. In normalen Zeiten ein geldwerter Vorteil für ihn, aber das Beispiel Götze zeigt: Die Zeiten sind nicht mehr normal. Absurde Handgelder und abstruse Promi-Gehälter sind plötzlich nicht mehr zeitgemäß.

3. Die Leih- und Tauschspieler

Auf dem Transfermarkt seien im Sommer "Strategen und Bastler" gefragt, sagt ein altgedienter Spielerbörsenhändler. Neue Methoden seien zu erwarten, etwa "das Phänomen des Tauschgeschäfts". Wer einen starken zweiten Torwart hat, aber keinen Rechtsverteidiger, der tauscht mit dem Verein, bei dem es umgekehrt ist: "Das ganze Denken wird sich ändern."

Ein anderes Phänomen ist, dass die neuen Bedingungen nicht mehr zu den alten Bedingungen passen: Werder Bremen etwa hat sich im Fall des Klassenverbleibs verpflichtet, für den bislang geliehenen Leonardo Bittencourt sieben Millionen Euro an Hoffenheim zu bezahlen. Problem: Sieben Millionen sind in Bremen jetzt leider viel mehr Geld als vorher. RB Leipzig wiederum könnte die Gelegenheit nutzen, die vereinbarten Übernahmepreise für die Leihspieler Patrick Schick und Angelino zu drücken. Mit AS Rom und Manchester City waren 29 bzw. 30 Millionen verabredet, da bleibt Spielraum für Neuverhandlungen.

Auf Schalke dagegen fürchtet man, dass die Krise einige Geschäfte verdirbt, die dem Klub viele Sorgen abgenommen hätten. So würde der 1. FC Köln den geliehenen Mark Uth zwar gern behalten, die avisierten acht Millionen Ablöse wird er aber kaum bezahlen können. Weil Schalke aber Uths Gehalt (geschätzt drei Millionen) sparen will, wird der Leihspieler Uth womöglich Leihspieler bleiben. Ein Schicksal, das auch Coutinho blüht. Schon vor der Krise stand fest, dass der FC Bayern nicht die verabredeten 120 Millionen bezahlen würde, Barcelona signalisierte bereits einen Preisnachlass. Nun müssen die Katalanen fürchten, dass sie wieder selbst für den im Unterhalt extrem teuren Brasilianer (angeblich 25 Millionen Euro brutto) aufkommen müssen. Alternative: Gehalt teilen, leihen, gegen ein zweiten Torwart tauschen.

4. Die Ausstiegsklauseln

Unter Managern gilt es als eine der schwierigsten Disziplinen: einem Talent eine Ausstiegsklausel in den Vertrag zu schreiben, die nicht zu hoch, aber auch nicht zu tief ist. Man sollte dabei ein bisschen hellsehen können: Wie entwickelt sich das Talent, wie entwickelt sich der Markt? Auf Schalke haben sie mal dem 17-jährigen Donis Avdijaj eine 48-Millionen-Klausel in den Vertrag geschrieben, der Stürmer landete dann bei Sturm Graz, Willem Tilburg und Heart of Midlothian. An diese Klausel wollen die Schalker lieber nicht mehr erinnert werden. Aber im anstehenden Sommer dürften nun auch Spieler mit aussichtsreicher Karriere-Perspektive zu Avdijajs werden und über zu hohe Klauseln klagen. Klauseln, die vor Corona in seriöser Abwägung formuliert wurden, wirken nach Corona plötzlich lebensfremd. Leipzigs Dayot Upamecano gehört zu heißesten Verteidiger-Talenten Europas, was seine 60-Millionen-Klausel gemäß Branchenlogik rechtfertigt. In der Krise wird sich für diese Summe aber kaum ein Käufer finden.

An Upamecano, 21, wird sich die neue Marktmischung aus Belauern, Taktieren und Kompromiss-Schließen exemplarisch studieren lassen. Leipzig könnte ein Gebot unter Klausel- und Marktwert akzeptieren; der Spieler müsste aber akzeptieren, dass er in London oder München weniger Gehalt aufrufen kann als erhofft. Oder, verrückte Idee: Er verlängert in Leipzig - mit einer neuen Ausstiegsklausel.

5. Der Fluch der guten Tat

Der Mönchengladbacher Max Eberl gehört zu jenen Managern, denen man vermutlich auch (ein bisschen) eigenes Geld anvertrauen würde. Eberl gilt als ebenso seriöser wie schlauer Streber, gerne ist er mit seinen Transfers schon fertig, wenn andere erst anfangen zu scouten. Auch bei Vertragsverlängerungen ist Eberl mitunter so schnell, dass die Konkurrenz oft gar nicht dazu kommt, ihm die Spieler wegzukaufen - und wenn, dann zu den neuen, teureren Bedingungen. Erst im Dezember ist er wieder (zurecht) gefeiert worden: "Eberl gießt Fundament für rosige Borussia-Zukunft", schrieb eine örtliche Zeitung. Grund: Eberl hatte auf einen Schlag die Verträge der Leistungsträger Yann Sommer, Christoph Kramer und Florian Neuhaus verlängert - und sie damit erst mal vom Markt genommen. Der Fluch der guten Tat: Es waren noch Deals zu den Konditionen des alten, überhitzten Marktes: Nun, mitten in der coronabedingten Währungsreform, hätte Eberl das bestimmt billiger haben können.

Die umgekehrte Erfahrung haben sie auf Schalke gemacht: So gerne hätten sie den Vertrag mit Torwart Alex Nübel verlängert, bis an die Grenze des Vertretbaren haben sie ihr Angebot gestreckt - jetzt, in der viralen Finanzkrise, sind sie ziemlich froh, dass er es nicht angenommen hat.

6. Still ruht der Tegernsee

Kann man sich den FC Bayern ohne Manuel Neuer, Thomas Müller, David Alaba und Thiago vorstellen? Irgendwann wird man das wohl können, so wie man sich inzwischen auch einen FC Bayern ohne Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger und Tom Starke vorstellen kann - aber jetzt schon? Fakt ist, dass alle vier nur noch bis 2021 an den Klub gebunden sind und in der Corona-Krise zu role models werden. So wie die vier Bayern werden es viele Spieler an vielen Orten tun: Sie zögern, weil sie abwarten, ob sie nach der neuen Marktlogik vielleicht billiger werden und eher wechseln können; und der Klub, in diesem Fall der FC Bayern, prüft, ob er den Profis in diesen Zeiten wirklich die Gehälter erhöhen kann.

"Wenn Sie wüssten, wen wir alles noch nicht haben!", müsste Uli Hoeneß jetzt eigentlich rufen. Mehr denn je hängt auf dem Markt alles mit allem zusammen, und deshalb ruht er gerade still, der Tegernsee.

7. Die Moral von der Geschicht'

Alle Experten sind sich einig, dass es auf dem Markt diesmal ausnahmsweise moralische Fragen zu berücksichtigen gilt. Etwa: Wie sozialverträglich wäre in Zeiten weit verbreiteten Entbehrens ein 50-Millionen-Transfer mit sagenhaften Gehaltsversprechen? Oder: Was sagen Spieler wie die von Schalke 04, die für mindestens drei Monate einer Gehaltskürzung zugestimmt haben, wenn ihr Verein im Sommer für mehrere Millionen einen neuen Kollegen kauft? Die Antwort darauf kann nur der Ball geben - sobald er wieder rollen darf.

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Quelle:
SZ vom 28.03.2020/ebc
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