Am Jahresanfang war Jörn Andersen plötzlich wieder in der deutschen Fußball-Bundesliga zu sehen. Am 25. Januar, in einer Zeit also, als das Coronavirus die Gesellschaft noch nicht lahmgelegt hatte, saß der 57-Jährige auf der Tribüne des Dortmunder Fußballstadions. Unten auf dem Rasen bestritt der 38 Jahre jüngere Angreifer Erling Braut Haaland sein erstes Heimspiel. Er wurde eingewechselt und traf in den Schlussminuten zweimal gegen den 1. FC Köln. So erinnerte er unweigerlich an den Mann auf der Tribüne, der nach der Partie noch ein gemeinsames Foto mit Haaland auf seinem Instagram-Kanal veröffentlichte. Am 12. Mai 1990 wurde Andersen nach seinem Tor beim 3:1 gegen eben jenen 1. FC Köln der erste ausländische Bundesliga-Torschützenkönig - wie Haaland ist er gebürtiger Norweger.
Andersen war vor 30 Jahren so etwas wie der Wegbereiter einer immer globaleren Bundesliga. Nach seiner Premiere 1990 brachten es mittlerweile 15 weitere Ausländer zum Torschützenkönig: Ausnahmekönner wie Giovane Elber, Robert Lewandowski oder Marcio Amoroso etwa, stille Vereinsikonen wie der Nürnberger Marek Mintal oder die Bochumer Thomas Christiansen und Theofanis Gekas. Oder auch der treffsichere Bremer "Kugelblitz" Ailton, der nach seiner Karriere so überraschend wie einst in den verwaisten Strafräumen des Fußballfelds noch in die freien Räume als Sänger ("Ailton Sensation"), "Let's-Dance"-Tänzer und Dschungelcamp-Bewohner stach. Der erste Ausländer aber unter all den Männern, die das Sport-Magazin kicker alljährlich mit einer 3,2 Kilogramm schweren Kanone aus Eisenguss ehrt, das war der blonde Norweger Jörn Andersen.
Auch die Haarfarbe eint ihn mit Haaland, dem zuzutrauen ist, dass er einmal der zweite norwegische Bundesliga-Torschützenkönig werden könnte. Die gleichen Stürmertypen sind die beiden aber nicht: auf der einen Seite der 1,94 Meter große, bullige Haaland - auf der anderen Seite der neun Zentimeter kleinere, feingliedrigere Andersen. Was sie jedoch noch gemein haben, ist die Grundeigenschaft eines jeden guten Mittelstürmers. Dieser Instinkt, der ihn schon in der Bambini-Mannschaft zum Frontmann des Teams werden lässt: Er steht zum Schluss immer genau da, wo er stehen muss, um als letztes Glied der Kombinationssportart Fußball das Tor zu erzielen. Phantom nennen die Menschen die Mittelstürmer gerne, und das eigentlich nur aufgrund dieser einen Eigenschaft.
"Ein echter Vollstrecker eben"
Andersen demonstrierte in seiner Karriere einige Male dieses Gespür. An dieser Stelle sei an eines seiner berühmteren Toren erinnert, das er für die Frankfurter Eintracht schoss im Kampf um einen Uefa-Cup-Platz im April 1990 gegen den direkten Konkurrenten Werder Bremen. Nach einem Steilpass von Ralf Weber lief der blonde Norweger mit wehendem Vokuhila von der rechten Seite aus ins Bild. Am Strafraum hatte Andersen alle Bremer abgeschüttelt und traf entscheidend zum 1:0.
Haaland wiederum glänzte vor der virusbedingten Zwangspause beispielsweise mit zwei formidablen Toren in der Champions League gegen Paris Saint-Germain - und traf in der Bundesliga in acht Spielen neun Mal. "Er ist physisch stark, schnell und er weiß, wo das Tor steht - ein echter Vollstrecker eben", sagte Andersen kurz nach Haalands Start in Dortmund zur Münchner Abendzeitung. "Er hat also alle Voraussetzungen dazu, ein ganz großer Bundesliga-Stürmer zu werden. Aber abwarten. Jetzt kennt ihn die Liga, es wird in den nächsten Spielen sicher nicht einfacher für ihn."
Andersen weiß, wovon er spricht. Er selbst traf in seinen ersten vier Spielen in Deutschland ja immerhin auch zwei Mal. Im Januar 1986 wechselte er von Valerenga Oslo zum 1. FC Nürnberg - die Bundesliga und das Land wurden zu Andersens Heimat, noch immer lebt er in Bayern und besitzt einen deutschen Pass. Nach zweieinhalb Spielzeiten in Nürnberg ging Andersen nach Frankfurt, doch im Sommer 1990 feilschte der 27-Jährige als Schützenkönig zu lange um einen besser dotierten Vertrag, auch weil er die Hoffnung hatte, im Falle keiner Einigung nach Italien wechseln zu können. Doch der Umzug in den Süden zerschlug sich, Frankfurt verpflichtete Anthony Yeboah, der später auch Torschützenkönig werden sollte, - und Andersen musste zum schwächeren Ligakonkurrenten Fortuna Düsseldorf weiterziehen. "Treffer Nummer 19 - ein Eigentor", titelte die SZ.
Die Zeit direkt nach seinem größten Erfolg als Fußballer beschreibt die Karriere Andersens ganz gut, im Grunde genommen wiederholte sich dieses Schema in seinem Leben mehrmals. Kurz nachdem er sein berufliches Glück fand, kam es ihm wieder abhanden - und umgekehrt. Besonders prägnant erlebte Andersen diese Welle in den Jahren 2008 und 2009. Nachdem er mit den Kickers Offenbach im Mai 2008 als Trainer aus der zweiten Fußball-Bundesliga abstiegen war, wechselte er als Nachfolger von Jürgen Klopp zum Aufstiegsaspiranten 1. FSV Mainz 05.
Andersen schaffte mit dem Klub tatsächlich den Sprung in die Bundesliga - wurde aber dann noch vor dem ersten Spieltag im August 2009 entlassen. Auch das ist ein Bundesliga-Rekord, nur halt ein tragischer. "Wir haben festgestellt, dass Jörn Andersen einen anderen Weg eingeschlagen hat, als wir ihn für richtig halten", sagte der Manager Christian Heidel damals. Er soll wohl zu hart trainiert haben, einige Spieler fielen aus, das Team rebellierte. Andersen sollte es als Coach danach nicht mehr in die Bundesliga schaffen.
Der Wellenreiter Andersen ist immer irgendwie zurückgekommen
Gleichwohl sorgte er noch einmal für Schlagzeilen, als er den Nationaltrainerposten in Nordkorea übernahm. "Ich bin hier, um meinen Job zu machen. Die Politik ist nicht mein Thema", sagte er damals zur SZ. Im März 2018 endete sein Vertrag, er zog nach Südkorea zu Incheon United, wo er im April 2019 entlassen wurde. Seitdem ist er ohne Job. Auf Dauer bleibt das aber wohl nicht so, der Wellenreiter Andersen ist nach Rückschlagen ja immer wieder irgendwie zurückgekommen.
Bisweilen auch auf kuriose Weise: Ein Jahr nach seinem Weggang aus Frankfurt kehrte er nach mageren fünf Bundesliga-Toren in Düsseldorf zurück zur Eintracht. In seinem ersten Spiel schafften die Frankfurter ein 3:3 beim FC Bayern München - zwei Mal stand Andersen wieder am rechten Strafraumfleck: Er traf zum zwischenzeitlichen 1:1 sowie spät zum Endstand. "Ich fühle mich sehr wohl", sagte er danach der ARD. Die ganze Saison lang spielte die Eintracht um die Meisterschaft mit, ging gar als Tabellenführer in den letzten Spieltag. Doch durch ein 1:2 beim Absteiger FC Hansa Rostock verpasste sie den Titel doch noch. Jörn Andersen stand in dieser Partie überraschend nicht im Kader.