Süddeutsche Zeitung

Bundesliga: Torhüter:Links blinken, rechts abbiegen

Lesezeit: 3 min

Von Flatterbällen, die keine Flatterbälle sind: Es war noch nie so leicht wie heute, einen Torwartfehler zu machen. Die Debatte um René Adler lenkt den Blick auf die Tücken dieser Position.

Christof Kneer

Wenn Jörg Butt will, dann sieht er diesen Ball immer noch fliegen. Er sieht dann Lukas Podolski, wie er gegen den Ball tritt, er sieht den Ball an der Mauer vorbei auf sich zurauschen, und aus einer Art Vogelperspektive sieht Butt sich selbst, wie er nach links läuft. Bis zu diesem Moment hat Butt kein Problem mit diesem Film, den er abrufbar im Kopf mit sich führt.

Der problematische Teil des Films beginnt, wenn Butt sich die paar Schritte nach links machen sieht. Er sieht dann nämlich auch, wie es sich dieser gewissenlose Ball plötzlich anders überlegt. Wie er Gefallen an einer niederträchtigen kleinen Kurve findet, wie er boshaft die Richtung ändert und über Butts Hände ins Netz zischt. Und wie er hinterher schadenfroh lacht. Wobei: Das mit Lachen, das kann Butt nicht beschwören. Aber es kommt ihm so vor.

Die natürlichen Feinde des Torwarts sind nicht mehr die Stürmer, es sind Flatterbälle. "Genaugenommen ist dieser Begriff ja falsch", sagt Jörg Butt, der Torhüter des FC Bayern, der sich vor zwei Wochen unter jenem Podolski-Freistoß verflog: "Wenn ein Schütze wie der Poldi den Ball mittig trifft, dann ist es nicht so, dass der Ball flattert und zehnmal die Richtung ändert."

Butt hat sich das mal gründlich erklären lassen, und für Laien fasst er das so zusammen, "dass Bälle, die sich nicht drehen, sich den Weg des geringsten Widerstands suchen". Wenn einer wie Podolski dem Ball also einen geraden Hieb versetzt, dann kann der Torwart nur noch abwarten, für welchen Windkorridor der Ball sich entscheidet - und ob der Ball kurz vor dem Ziel (= Tor) vielleicht einen anderen Korridor findet, der ihm noch besser gefällt.

Nach den jüngsten Missgeschicken des Nationalkeepers René Adler verhandelt das Land mal wieder lustvoll über seine Torhüter, aber die Verhandlung folgt noch den alten Mustern. Schuss aus kurzer Distanz: unhaltbar. Schuss aus weiter Distanz: haltbar. Ball ins entfernte Eck: Freispruch. Ball ins Torwarteck: schuldig. Es ist wie bei dem Spiel "Vollenden Sie diesen Satz": Wenn der Torwart rauskommt ... - "... muss er ihn haben", ergänzt Butt. Wenn ein Fernschuss reingeht ... - "... stand der Torwart zu weit vorm Tor." Butt kennt die Klassiker, er nimmt sich die Freiheit, sich milde über sie zu amüsieren. Er wird bald 36, er muss keine Karriere mehr machen.

Das Berufsbild des Torhüters hat sich dramatisch und immer wieder aufs Neue verändert in den vergangenen Jahren, René Adler hat sich eine unpraktische Zeit zum Karrieremachen ausgesucht. Es war noch nie so leicht wie heute, einen Torwartfehler zu machen. Als Torwart hat man die freie Auswahl: Man kann unter Flatterbällen durchtauchen, man kann sich von Bällen verspotten lassen, die links blinken und rechts abbiegen. Und man kann, eine Art Trendfehler dieser Tage, rauslaufen, um anständig modern wie ein Libero zu klären - und dabei zu spät kommen (wie Adler im Länderspiel gegen Argentinien) oder, auch schön, mit dem eigenen Kollegen zusammenrumpeln (wie Adler gegen den HSV).

"Eine ständige Risikoabwägung" nennt das Butt, "du musst in Sekundenbruchteilen abschätzen, wie schnell der Stürmer ist, wie schnell der Ball ist und wie schnell du selbst sein kannst." Aus der seitlichen Zuschauerperspektive sieht das manchmal nicht so schwierig aus, Butt saß beim Spiel gegen Argentinien auf der Tribüne, von dort oben hat er das Unheil früh kommen sehen. Aber Adler musste von hinten abschätzen, wo der Verteidiger Mertesacker steht und wo der Angreifer Higuain. Er hat sich dramatisch verschätzt.

Das zeitgenössische Torwartspiel ist komplett auf Kante genäht, die moderne Spielweise ist hochriskant und extrem fehleranfällig. "Deshalb ist der psychologische Faktor noch wichtiger geworden, als er es ohnehin schon ist", sagt Butt. Mehr denn je komme es darauf an, sich nach so einer Szene zu schütteln und weiterzuspielen, als sei diese Szene nur eine Einbildung gewesen.

Torhüter müssen heute leidensfähiger sein denn je: Zur Kunst des Torwartspiels gehört inzwischen auch ein solider Masochismus. So muss ein guter Torwart Fehler gestehen können, die er nach eigener Einschätzung gar nicht gemacht hat. "Es bringt doch nichts, sich öffentlich auf einen Flatterball rauszureden", sagt Butt. Er weiß ja, wie das draußen ankommt - wie die schlechte Ausrede eines Torwarts, der es nicht geschafft hat, einen harmlosen Fernschuss zu halten.

Die Torhüter haben es inzwischen aufgegeben, sich für etwas zu rechtfertigen, was Nicht-Torhüter nicht verstehen. "Ich habe das Podolski-Tor sofort auf meine Kappe genommen", sagt Butt, "und es war ja auch haltbar." Das ist die feine Unterscheidung, die Torhüter heute für sich treffen: Ein Tor kann vielleicht haltbar gewesen sein - aber doch kein klassischer Fehler.

Jörg Butt ist ein Routinier, er hat alles erlebt, er kann es sich erlauben, den Anwalt für die Kollegen zu geben. Er plädiert für eine Neudefinition des Begriffes "Torwartfehler". "Wer sich den Ball selbst reinschmeißt, der macht natürlich weiterhin einen Fehler", sagt er. Aber wenn ein Ball mal wieder links antäuscht und rechts vorbeigeht, dann, findet Butt, solle man sagen, der Torwart habe "nicht so gut ausgesehen".

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SZ vom 20.03.2010
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