Für die Anhänger des VfB Stuttgart muss sich der frühe Sonntagabend angefühlt haben wie die Szenen aus dem Song „Ironic“ von Alanis Morissette. Blödes Gefühl, wenn man den Mann des Lebens kennenlernt – und kurz darauf dessen wunderhübsche Frau. Oder im Chardonnay-Glas plötzlich eine eklige Fliege schwimmt. Oder eben, im Fall der Stuttgarter Fußballer, wenn der ganze Klub erst das glückliche Ende einer Aufholjagd feiert, an deren Ende statt eines 0:3 kurzzeitig ein 3:3 steht – und dann merkt, dass der moderne Fußball vor - nein hinter! - die Emotionen den VAR gesetzt hat. „Ironic“ eben.
Auch er habe „sehr emotional gefeiert nach dem dritten Tor“, ließ der VfB-Trainer Sebastian Hoeneß nach dieser Bergfahrt mit Gondelabsturz wissen: „Auch weil ich das Gefühl hatte, dass es sehr verdient gewesen wäre und dass es für uns als Mannschaft wichtig gewesen wäre, diese Belohnung zu bekommen.“ So hätte sich das wohl gefügt für sein Team, das aus einem 0:3-Rückstand gegen Eintracht Frankfurt in allerletzter Sekunde noch ein 3:3-Unentschieden (90.+7) gemacht und das Stadion in eine einzige jubelnde und schreiende Masse verwandelt hatte. Nur dass Schütze Chris Führich vor seinem Schuss tatsächlich ein paar Zentimeter im Abseits gestanden hatte. Also: Überprüfung und Annullierung durch den VAR. Gerechtigkeit, sagen dessen Befürworter. Was dessen Gegner am Sonntag sagten, ist nicht zitierfähig.
Immerhin, nach der ersten Wut gab es viel Mitleid und Sympathie für die Stuttgarter Mannschaft. Die war schließlich im ersten Durchgang drückend überlegen gewesen, vergab aber Chance um Chance, einen Elfmeter eingeschlossen. Und lag deshalb nach 45 Minuten zurück: Nach einer Ecke von Omar Marmoush köpfte Hugo Ekitiké den Ball zur Frankfurter Pausenführung ins Netz, eine perfekte Co-Produktion des Frankfurter Erfolgsduos, das zusammen bereits 16 Saisontreffer verantwortet. Nach dem Wiederanpfiff traf Nathaniel Brown zum 0:2, ehe Marmoush mit einem tollen Freistoß aus 20 Metern das 0:3 besorgte – es war die exakte Doublette seines Siegtreffers am Donnerstag in der Europa League gegen Slavia Prag, was selbst seinen Trainer Dino Toppmöller in Staunen versetzte. „Ehrlich gesagt dachte ich, der ist ein bisschen zu weit weg und der Torwart steht zu gut“, sagte Toppmöller. Stand er auch. Unhaltbar war der Schuss trotzdem.
Stuttgarts Stürmer Demirovic hätte an einem anderen Tag vielleicht einen Hattrick erzielt
Nun sorgt ein 0:3-Rückstand andernorts dafür, dass die Heimmannschaft aufsteckt. Anders der VfB, der allerdings in seiner Rage Latte, Torwart und Frankfurt-Verteidiger anschoss, ehe er dann doch das Schlüssel-Schloss-Prinzip entdeckte. Zunächst verkürzte Joshua Vagnoman in der 86. Minute auf 1:3 und nachdem Woltemade in der Schlussminute der regulären Spielzeit das 2:3 gelang, hielt es im Stadion niemanden mehr auf den Plätzen. Als Führich tief in der Nachspielzeit tatsächlich noch das vermeintliche 3:3 schoss, brachen dann alle Dämme. Der Rest war VAR. Und die rituelle Suche nach einem „warum“, die an diesem Abend nicht so leicht fiel.
Was wollte man dem VfB auch vorwerfen außer der am Sonntag oft zu hörenden Selbstanklage, dass man zu schlampig mit den eigenen Chancen umgegangen sei? Ermedin Demirovic stellte reuig fest, dass er, „wenn es gut läuft, einen Hattrick“ gemacht hätte. Lief aber nicht gut. Wobei: Selbst sein verschossener Elfmeter, der für den Fortgang des Spiels nicht ganz irrelevant gewesen sein dürfte, war eher gut gehalten als indiskutabel schlecht geschossen.
Überhaupt war Frankfurts Torwart Kevin Trapp an diesem Abend gut aufgelegt. Und er zeigte wie sein ganzes Team eine Cleverness und Effizienz, die den dritten Tabellenplatz nicht unbedingt als belanglose „Momentaufnahme“ (Sportvorstand Markus Krösche) erscheinen lässt. Hoeneß blieb nur festzustellen, dass man „für so ein Topspiel nicht die nötige Effizienz gezeigt“ habe: „Ich habe aber eine Mannschaft gesehen, die gefightet hat ohne Ende und sich Chancen um Chancen erspielt hat.“ Er hatte zudem eine Mannschaft gesehen, die spielerisch lange überlegen war und physisch trotz der Dreifachbelastung aus diversen Wettbewerben über 97 Minuten voll auf der Höhe war – letzteres galt übrigens auch für Gegner Frankfurt.
Ein Problem haben sie halt dennoch in Stuttgart, nicht im DFB-Pokal und auch nicht in der Champions League, wo es ordentlich läuft. Doch die mittelschwere Ergebniskrise in der Liga, die ist nicht mehr wegzudiskutieren. Vergangene Saison waren sie am Saisonende Zweiter, da fällt – Fluch der guten Tat – Rang elf heuer arg negativ auf. Zumal der VfB zumindest gegen Freiburg, Hoffenheim und Leverkusen auch schwächere Partien gezeigt hat. Intern dürfte der Blick auf die Tabelle ohnehin wehtun, schließlich ist der VfB nach der vergangenen Saison in der Selbstwahrnehmung wieder überraschend schnell zum Top-Team avanciert.
Doch Druck von außen braucht Stuttgart derzeit nicht. Den macht sich der Trainer Hoeneß schon selbst: „Wir haben zu wenig Punkte. Ganz klar ist auch, dass wir gegen Bochum in der Pflicht sind.“