Süddeutsche Zeitung

Schalke 04:Ein Fall für den Psychiater

Schalkes Spieler werden so sehr von ihren Ängsten gelähmt, dass sie das fußballerische Einmaleins verlernt haben - auch Huub Stevens kann nicht helfen.

Von Milan Pavlovic

Das Schalker Stadion ist ein Hort der Tristesse geworden. Aber Abgründe können immer noch tiefer führen. Seit dem Ende der Bundesliga-Zwangspause im Mai hat es wohl keinen traurigeren Moment gegeben als jenen am Samstagnachmittag. Da betrat Schalkes "Jahrhunderttrainer" Huub Stevens die Arena, das Gesicht halb verdeckt von einer stilvollen, königsblauen Maske, und wandte sich zum Gruß an die Haupttribüne, von der ihn Tausende Fans so viele Jahre lang mit Ovationen überhäuft hatten. Diesmal klatschten ihm zwei Handvoll freundlich gesinnter Menschen zu, und so sehr man sich an die Rahmenbedingungen der Corona-Ära gewöhnt hat, so sehr führte einem diese Szene vor Augen, was alles anders geworden ist. Damit ist nicht nur die unselige Pandemie gemeint, sondern auch die Tatsache, dass Stevens sich zum vierten Mal seit 1996 als Trainer von Schalke 04 präsentierte - obwohl er beim vorherigen Noteinsatz vor gerade mal eineinhalb Jahren geschworen hatte, dies nie wieder zu tun. Damals sah er - mitgenommen von seiner schwierigen Aufgabe - schlechter aus als diesmal. Aber diesmal soll sein Einsatz ja auch schon am Dienstag im DFB-Pokal beendet werden.

Diese limited edition verspricht freilich kein Klassiker zu werden. Denn selbst Stevens ist nicht in der Lage, Wasser in Wein zu verwandeln oder, was längst genauso schwierig zu sein scheint, Schalke 04 zu einem Sieg zu führen - aber dass es gleich Essig sein würde mit dem ersten Sieg seit Januar dieses endlosen Jahres, das war doch ein harter Schlag. Das ebenso verdiente wie schmerzliche 0:1 (0:0) gegen Arminia Bielefeld, einen direkten Konkurrenten im Abstiegskampf, ließ den Rückstand auf den vielleicht rettenden 16. Platz auf massive sechs Punkte anwachsen - und viel leichtere Gegner dürften dem Tabellenletzten nicht mehr begegnen.

All die Fehler würden mindestens ein Lehrbuch füllen

Ausgerechnet Stevens hatte angekündigt, den Spaßfaktor zu erhöhen, weil man "nur dann gut spielen kann, wenn man Spaß hat". Aber der Spaß ist Mannschaft und Klub in all den Monaten des Geisterfußballs und der gespenstischen Leistungen verloren gegangen, die Spieler wirken bleibeschwert und in Zeiten zurückgeworfen, als sie Probleme mit dem Einmaleins hatten. Was diese Elf als Erstes braucht, ist kein Trainer, der die verschütteten fußballerischen Fähigkeiten der heillos verunsicherten Spieler ausgräbt, sondern ein Psychiater, der ihnen die Ängste nimmt.

Gegen Bielefeld spielten die Schalker zwar nicht so gruselig wie unter der Woche gegen Freiburg -, aber die Fehlerquote war hoch genug, um Lehrbücher zu füllen. Besonders die linke Seite mit Hamza Mendyl und Bastian Oczipka fiel auf: der eine ein Sprinter ohne Kompass oder Ballgefühl, der andere ein Zauderer mit Tempolimit und mindestens einem Aussetzer pro Partie - gegen Bielefeld dummerweise beim entscheidenden Gegentor, als weder Oczipka noch Innenverteidiger Salif Sané Arminias Fabian Klos am Kopfball hinderten, obwohl die Flanke gefühlte 30 Sekunden in der Luft war.

Dass Mendyl überhaupt auf dem Platz stand, den Stevens während seines vergangenen Rettungskommandos 2019 noch suspendiert hatte, zeugt zwar davon, dass der Trainer nicht nachtragend ist; und die Idee, Tempo zu entwickeln, ist ja unbedingt richtig -, aber dafür muss es auch einen Ballverteiler und gescheite Ballannahmen geben. Niemand hatte erwartet, dass Stevens nach der Verabschiedung des Kurzzeittrainers Manuel Baum elf Gewinner aus dem Zylinder zaubern würde. Aber trotzdem: Etwas mehr Mut hätte man schon erwarten dürfen, schließlich hat der Klub in einer Serie von 29 Liga-Spielen ohne Sieg vor allem in jenen Partien besonders schlecht ausgesehen, die er zaghaft bestritt. Gegen Bielefeld hatte das Team eine Doppelchance, direkt vor dem 0:1, mehr war da nicht.

"Aufgeben ist das Allerallerallerletzte"

"Sollen wir etwa aufgeben?", fragte Stevens später. "Kannst du nicht aufgeben! Aufgeben ist das Allerallerallerletzte. Wir kämpfen weiter und hoffen auf ein wenig Glück." Ein wenig?

Wenn es für die Schalker etwas Gutes gab an diesem Abend: Im Seuchenjahr 2020, in dem Schalke mehr Trainer entließ (zwei) als Siege feierte (einen), wird es keine Bundesliga-Niederlage mehr geben können. 2021 wird es dann zunächst darum gehen, die Egalisierung oder Verschlechterung des legendären Minusrekords von Tasmania Berlin aus den 1960ern (31 Spiele ohne Sieg) zu vermeiden (die Gegner heißen: Hertha, Hoffenheim, Frankfurt). Insgesamt braucht die völlig verunsicherte Mannschaft aus den restlichen Saisonspielen etwa 33 Punkte zur Rettung - so viele, wie sie vom 1. bis 18. Spieltag der vergangenen Saison geholt hatte. Es ist also möglich. Aber kaum umzusetzen.

Mit Huub Stevens sollte im Januar auf der Schalker Bank niemand rechnen, auch wenn er das in seiner neuen Rolle des kauzigen Onkels nicht eindeutig aufklärte. Lieber sagte er, erfreut von seinen eigenen kryptischen Sätzen: "Ich möchte gerne Weihnachten und Silvester ruhig zu Hause sein." Das kann man als Schalke-Trainer garantiert nicht. Wer für ihn übernimmt, ob Alexander Zorniger oder Friedhelm Funkel oder Dimitrios Grammozis, soll spätestens am Dienstag verkündet werden. Aber Achtung: An diesem Tag steht das Pokal-Spiel gegen den Viertligisten SSV Ulm 1846 an, eine Partie mit hohem Blamage-Faktor, selbst für das Schalke 04 von 2020.

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