Schalke-Torwart Nübel:In der Tradition kämpfender Mönche

Nach Kung-Fu-Foul

Alexander Nübel (hinten) trifft auf Frankfurts Mijat Gacinovic (vorne) - und tritt mit seinem hier verdeckten Bein voll in den Gegner.

(Foto: dpa)
  • Schalkes Torwart Alexander Nübel geht mit seinem Tritt gegen den Frankfurter Gacinovic in die Bundesliga-Geschichte ein.
  • Dass sich Nübel nach dem Unfall um seinen Gegenspieler gekümmert hat, rechnet ihm dieser hoch an.
  • "Danke, dass du dich sofort entschuldigt hast", schreibt Gacinovic, der eine Rippenprellung erlitt.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Bastian Oczipka war live dabei, als das Unheil Gestalt annahm. Es kam ihm mit Anlauf entgegen, und dann, so berichtete der in nächster Nähe postierte Schalker Abwehrspieler, "hat es relativ gescheppert": Alexander Nübel war mit dem Frankfurter Angreifer Mijat Gacinovic zusammengestoßen. Allerdings handelte es sich um eine ungleiche Kollision. Während Gacinovic ahnungslos in sein Unglück rannte, näherte sich Nübel in der Tradition der kämpfenden Shaolin-Mönche.

Sein Tritt mit gestrecktem Bein vor die Brust des Kontrahenten könnte, nach laienhaftem Verständnis, der "Schule der Gottesanbeterin" entstammen, doch auch die koreanische Variante des Karate liefert Vorbilder für den offensiven Einsatz. Und, selbstverständlich, der abendländische Fußball.

Sehr bald nach Nübels spektakulär missglücktem Eingreifen wurden überall im Land historische Analogien bemüht. Eric Cantonas legendärer Kung-Fu-Angriff auf einen pöbelnden Zuschauer aus dem Jahr 1995 bietet passende Bilder, doch zumeist bewegte sich die Debatte auf der Gratwanderung zwischen Toni Schumacher und Oliver Kahn - große Torhüter, in diesem Fall aber keineswegs große Vorbilder für den Schalker Schlussmann. Schumacher gegen Patrick Battiston bei der WM 1982 und Kahn gegen Stéphane Chapuisat 1999 sind als Exempel für entgleisten Einsatzeifer im nationalen Gedächtnis verewigt.

"Es hat sehr fürchterlich ausgesehen"

Nübel, 23, ist zweifellos in die Bundesliga-Geschichte eingegangen, als er in der 63. Minute Gacinovic umtrat. Reißerische Formulierungen in der Berichterstattung - "das brutalste Foul des Jahres" - entsprechen dem Sachverhalt. Dennoch gab es nach dem Spiel, das die Hausherren 1:0 gewannen, keine Differenzen zwischen Schalkern und Frankfurtern. Nübel habe "die Situation ein bisschen falsch eingeschätzt", beschrieb Eintracht-Trainer Adi Hütter die Szene in diskreten Worten, aus dem Bewegungsablauf heraus habe es dann "kein Zurück" mehr gegeben - "es hat sehr fürchterlich ausgesehen". Frankfurts Profi Djibril Sow atmete erleichtert auf, als er feststellte, "dass Mijat bei Bewusstsein war".

Gacinovic, der mit einer Rippenprellung relativ günstig davonkam, bedankte sich am nächsten Tag nicht bei den behandelnden Ärzten im Bergmannskrankenhaus - sondern bei Nübel. "Danke, dass du dich sofort entschuldigt hast", schrieb der 24-jährige, solche Zusammenstöße könnten nun mal "leider vorkommen".

Gleich nach dem schlimmen Crash hatte sich Nübel um sein Opfer bemüht, den umgehend von Schiedsrichter Felix Zwayer ausgesprochenen Platzverweis nahm er beiläufig zur Kenntnis, die rote Karte sei ihm "in dem Moment egal" gewesen. Am Abend habe er Gacinovic angerufen, sagte der Torwart der Funke-Mediengruppe: "Er hat die Entschuldigung angenommen, das fand ich sehr, sehr stark." Er habe versucht, den Angriff abzufangen, den die Frankfurter mit einem Pass in die Schnittstelle der Abwehr gestartet hatten, "das Problem ist, dass man nicht viel Zeit hat, zu überlegen". Markus Schubert, der den Kapitän im Tor ersetzte, wusste genau, was in diesem Moment in seinem Mitspieler vorging: "In der Millisekunde denkst du, du kriegst den Ball und kommst raus ..."

Schalke bietet Nübel einen hochdotierten Vertrag an

Moderne Torhüter leben gefährlicher als ihre Vorfahren, die sich damit begnügen durften, die Linie zu bewachen, Flanken abzufangen und ansonsten hübsch zu Hause im Strafraum zu bleiben. Deutschland wäre ohne seinen Torwartlibero Manuel Neuer 2014 vermutlich nicht Weltmeister geworden, es hat aber auch nicht viel gefehlt, und Deutschland wäre womöglich wegen Neuers ambitionierter Spielweise nicht Weltmeister geworden. Im Achtelfinale gegen Algerien begab sich Neuer gleich ein halbes Dutzend Mal in Zweikämpfe mit den schnellen gegnerischen Stürmern. Mal grätschend, mal ablaufend, mal mit dem Kopf voraus, glücklicherweise immer so präzise und pünktlich, dass er den Ball und nicht den Widersacher traf.

Im Finale war es wohl die von Schubert erwähnte "Millisekunde", die Neuer vor einem Platzverweis und die deutsche Elf vor einem Elfmeter bewahrte. Der Torwart war einen Moment schneller zur Stelle als Gonzalo Higuain, so traf er erst den Ball und erst dann den Gegner. Die für den argentinischen Stürmer schmerzhafte Kollision geriet zur Nebensache.

Nübels Talent ist, trotz einiger Fehler zuletzt, unbestritten

Er bemühe sich, "immer offensiv zu spielen", fügte Nübel am Montag an und ließ damit anklingen, dass er sich von dem Vorfall nicht beirren lassen möchte. Erst mal wird er allerdings eine Weile zuschauen müssen, eine längere Sperre droht. Es ist sein zweiter Feldverweis, im Februar 2019 hatte er, just zum Stammtorwart befördert, eine Notbremse zu verantworten und musste zwei Spiele aussetzen. Während der Zwangspause hat er nun zudem Zeit, den Beschluss über seine weitere Zukunft zu treffen. Schalke bietet ihm einen hoch dotierten Vertrag an, der alte läuft im Sommer aus, was den FC Bayern zur Gegenofferte animiert hat. Nübels Talent ist, trotz einiger Fehler zuletzt, unbestritten.

Die Kollegen haben Argumente zum Bleiben geliefert. Mit Schubert im Tor, der auch Nübels Nachfolger in der U-21-Nationalelf ist, verteidigten zehn Schalker gegen elf europacupmüde Frankfurter das 1:0, das abermals Benito Raman erzielt hatte. Es war ein Spiel mit hohem Verschleißfaktor. Außer Gacinovic musste auch Schalkes Weston McKennie ins Krankenhaus, er hatte sich nach zehn Minuten an der Schulter verletzt und wird wohl bis tief ins nächste Jahr hinein fehlen. McKennie, 21, ist eigentlich Mittelfeldspieler, aber Schalke musste zuletzt drei der vier Innenverteidiger ersetzen. Gegen Frankfurt rückte als Ersatzmann des Ersatzmanns der Linksverteidiger Oczipka nach.

Die Ausfall-Liste in Gelsenkirchen ist lang vor der letzten Fußballwoche des Jahres, aber auch da gilt den Frankfurtern das Schalker Mitgefühl. Die Eintracht hat zehn Spiele mehr in den Beinen, "da sind wir in einer Luxussituation", findet Oczipka. Wenn sie so weitersiegen, droht den Schalkern demnächst allerdings das gleiche Schicksal.

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