Als der Schiedsrichter Bastian Dankert am Samstagabend um 19.38 Uhr zur zweiten Halbzeit bat, schlug dem FC Schalke 04 gewissermaßen die letzte Stunde. 0:1 lagen die Hausherren zur Pause gegen Werder Bremen zurück, die Folgerungen waren bekannt. Den Luxus von Punktverlusten gegen den Mitaufsteiger konnte sich Schalke in der ständigen Aufholjagd, den die laufende Rückrunde für sie darstellt, nicht mehr leisten. Die Spieltage verrinnen, das Schlussprogramm mit Aufgaben in Mainz, München und Leipzig ist heftig.
Entsprechend verzweifelt suchten die Schalker nun ihr Heil im Angriff, das Publikum im ausverkauften Festspielhaus unterstützte sie dabei nach Leibeskräften, und der SV Werder tat ihnen den Gefallen, seine eigenen Offensivbemühungen auf ein Minimum zu reduzieren. Am Begriff Intensität führt kein Weg vorbei, um die Anstrengungen der Blauen zu beschreiben, aber um den Lohn ihrer zunehmend dramatisch vorgetragenen Anstrengungen mussten sie bis zur vorletzten Minute warten - und dann ging ein Schrei durch die Arena, der mindestens bis ins Weserbergland hallte.
Dominick Drexler, eben noch der Mann, der mit einer Rettungstat vor der Torlinie das 1:2 und damit den mutmaßlichen Saison-Knockout verhindert hatte, stand auf einmal nach Rodrigo Zalazars Zauberpass goldrichtig vor Jiri Pavlenka, um den Ball in die Ecke zu schaufeln. Ein kurzer Blick über die Schulter zum Linienrichter, und dann wusste er: Kein Abseits, keine Einwände der Regelhüter - er hatte wirklich gerade das 2:1 geschossen, das Schalkes Hoffnungen auf den Klassenverbleib aufrechterhält.
Ob Drexlers Tor am Ende außer drei Punkten auch dazu beiträgt, das große Ziel zu sichern, das weiß noch keiner, aber zumindest für ein paar Stunden und Tage hat der in der 75. Minute eingewechselte Mittelfeldspieler beglückend in das Leben der Schalke-Fans in aller Welt eingegriffen. In der Arena wurde gefeiert, dass die Tribünen bebten.
Die Bremer bestätigen den Ruf einer Mannschaft mit gehobenen spielerischen Fertigkeiten
Auf dem Podium im Pressesaal saß ein Bremer Trainer Ole Werner, der noch ein wenig nüchterner dreinblickte, als er das ohnehin gewohnheitsmäßig tut: Schalkes Ausgleich - durch den eingewechselten Verteidiger Sepp van den Berg in der 81. Minute - sei die logische Folge eigener Passivität gewesen, sagte er. "Wir haben nicht mehr zu unserem eigenen Spiel gefunden", stellte er im Protokollstil fest. Auch sein Schalker Kollege hatte die Gefühle wieder im Griff, als er die Lage überblickte: "Wir sind froh, dass wir dieses Spiel umbiegen konnten und weiterhin im Rennen sind", sagte Thomas Reis, mochte bei aller Erleichterung aber nicht auf die kritische Rückschau verzichten.
Der gehemmte Auftritt seiner Mannschaft während der ersten Halbzeit konnte ihm nicht gefallen. Von Wechseln sah er trotzdem ab und wurde belohnt: Auf Bewährung rafften sich dieselbe Elf doch noch zu einer Energieleistung auf und legte damit bis zu den geglückten Einwechslungen das Fundament für die Wende: "Wenn du so ein Spiel noch umbiegst und drei Punkte holst, dann kann das noch mal Kräfte freisetzen", meinte Reis. So ein Sieg tue besonders gut, sagte Angreifer Marius Bülter am TV-Mikrofon: "Wenn man in letzter Minute das entscheidende Tor schießt, fühlt es sich extrem gut an."
Doch vor der Freude kam das Leiden. Die Fans in der Nordkurve hielten die Moral mit Gesängen aufrecht, vom Rasen kam allenfalls spärliche Animation. Während die Schalker in der ersten Hälfte schwer an der Last ihrer großen Aufgabe trugen und ihre eindimensionalen Angriffe meistens durch hohe Bälle nach vorn initiierten, meist auf den bedauernswerten Simon Terodde zielend, bestätigten die Bremer den Ruf einer Mannschaft mit gehobenen spielerischen Fertigkeiten. In der gegnerischen Hälfte ließen Jens Stage, Maximilian Philipp, Marvin Ducksch und Leonardo Bittencourt mit Leichtigkeit den Ball kreiseln, in fließenden Kombinationen bereitete immer ein Mann den Weg für den nächsten, das sah zugleich aus wie präzise Choreographie und freie Improvisation.
Schon nach wenigen Minuten brauchte es eine Heldengrätsche von Abwehrchef Maya Yoshida gegen Leonardo Bittencourts Schuss, um den Rückstand zu verhindern. Zehn Minuten später aber waren die Schalker Verteidiger nur mehr staunende Zuschauer, als sich Werder nach einem Ballverlust von Zalazar im offensiven Mittelfeld generalstabsmäßig nach vorn manövrierte, bis Ducksch im Strafraum freigespielt war und den Ball überlegt in die Ecke schoss.
Die Chance zum 2:0 ließ Ducksch, weiterhin ein exzellenter Vertreter des verletzten Mittelstürmers Niclas Füllkrug, eine Viertelstunde vor Schluss aus, als er aus der Halbdistanz knapp neben das Tor schlenzte. Mit dem Ausgleich rechneten nicht mehr viele Schalker Sympathisanten, schon gar nicht, dass der junge Verteidiger van den Berg ihn schießen könnte.
Ein halbes Jahr hatte der vom FC Liverpool geliehene Niederländer wegen einer Sprunggelenksverletzung aussetzen müssen, einer von vielen Schalker Verletzungsfällen - und nun kam er als späte Aushilfe auf den Platz und traf mit dem zweiten oder dritten Ballkontakt wie ein geübter Torjäger. Sein 1:1 leitete eine Schlussphase ein, in der die Bremer dem 2:1 immer ein Stück näher waren als die wild vorwärts rennenden Schalker. Bis Dominick Drexler innerhalb von zwei Minuten in die Rolle des doppelten Retters schlüpfte. Vielleicht eine vergängliche Rolle, vielleicht eine für die Schalker Geschichtsbücher.