Vor dem Spiel, das konnten die Zuschauer auf dem Videowürfel verfolgen, herrschte kolossale Kollegialität unter den Spielern, als sie sich zum gemeinsamen Einzug ins Stadion aufreihten. Begrüßungen, Umarmungen, Schulterklopfen, Rafal Gikiewicz bemühte sich besonders um den freundlichen Austausch mit Simon Terodde.
Nach dem Spiel, die Zuschauer konnten es in Breitwand-Panorama auf dem Spielfeld sehen, mussten Betreuer und Ordner eingreifen, um einen Tumult der Akteure zu verhindern, mittendrin Schalkes Manager Rouven Schröder, der den gleichermaßen drohenden wie bedrohten Gikiewicz in eine Art Schutzhaft zu nehmen versuchte. Da hatte Simon Terodde den Tatort allerdings schon verlassen, den er mit seiner (Schimpf-)Attacke auf Augsburgs Torwart selbst eröffnet hatte, "überreagiert" habe er da, sagte Schalkes Mittelstürmer später. "Ein Unding eigentlich. Aber da machen wir jetzt kein Fass auf", kommentierte Stefan Reuter den letztlich folgenlosen Krawall und setzte ein Lächeln auf: "Das ist Fußball".
Der Augsburger Sportchef konnte sich nach dem 3:2-Sieg des FCA beim FC Schalke 04 beides leisten: das Lächeln und die Großmut. Dennoch hätten ihn Anhänger des FC Schalke für diese im kleinen Kreis getätigte Aussage sicherlich gern am Kragen gepackt und korrigiert: Mit Fußball im Wortsinn hatte das Ganze nur bedingt zu tun. Nicht wegen des gewohnt stresserzeugenden FCA, sondern wegen der spielerischen Selbstbeschränkung der Schalker Mannschaft. Zwar holte Schalke den 0:2-Rückstand auf und befand sich nach dem Platzverweis für Angreifer Mergim Berisha fast eine halbe Stunde in Überzahl. Doch während die Hausherren weiterhin systematisch das Fußballspielen verweigerten, indem sie ein Kick-and-rush inszenierten, das selbst in Englands vierter Liga nicht mehr vorkommt, bediente sich der FCA seiner spielerischen Mittel und erzielte durch André Hahn noch den Siegtreffer (77.).
Einige Schalker Fans misstrauen der Fußballidee von Trainer Kramer
Es ist nicht so, als ob die Schalker Mannschaft den Ball nicht laufenlassen könnte, die Tore, die zum Ausgleich führten, belegten es klar und deutlich. Aber sie hat den konstruktiven Ansatz meistens mit nachweislichem Vorsatz missachtet. Der Verdacht, dass die Schalker dazu von ihrem Trainer angestiftet wurden, entstand unter anderem aus der enormen Zahl an hohen und weiten Bällen, die vorwiegend nach dem Zufallsprinzip in die Richtung der Doppelspitze Terodde/Sebastian Polter geschlagen wurden. Da Frank Kramer gegen diesen Exzess von Spielverweigerung nicht einschritt, war er wohl mindestens mit ihm einverstanden: "Wir wollten wuchtig sein", verriet der Coach später seinen Plan.
Über den methodischen Hintergrund des Trainers Frank Kramer, 50, hat die Gemeinde schon diskutiert, als er seinen Dienst noch nicht angetreten hatte. Die Skepsis, die ihn empfing, hatte nur teilweise damit zu tun, dass er gerade erst mit Arminia Bielefeld abgestiegen war. Der Trainer stand branchenweit im Ruf, eine Lehrmeinung zu vertreten, die auf die Arbeit gegen den Ball gerichtet ist und eigenes Gestalten hintanstellt - und zwar so weit wie möglich. Nach nunmehr acht Punktspielen lässt sich sagen, dass Kramer die Erwartungen erfüllt hat.
Kramer machte jetzt das "giftige Angriffspressing" des FCA für den Verzicht auf flache Pässe und ein organisiertes Aufbauspiel verantwortlich: "Du kriegst nicht viel Zeit, dich zu positionieren." Offenbar fürchtete der Trainer Abspielfehler. Den freischaffenden Spielmacher Rodrigo Zalazar ließ er bis zur Pause gewohnheitsgemäß auf der Bank, wo der womöglich ebenfalls viel zu kreative Tscheche Alex Král bis zum Schluss verblieb. (Zalazar zog sich zu allem Übel nach seiner Einwechslung einen Mittelfußbruch zu und wird - wie auch erheblich verletzte Innenverteidiger Sepp van den Berg - erst 2023 wieder eingreifen können.)
Die Augsburger dürften das ebenso einkalkuliert haben wie die gegnerische Strategie der Langstrecken-Pässe. Sie waren bestens vorbereitet. Zwei gezielte, gekonnte Gegenangriffe über André Hahn und Berisha brachten dem FCA eine 2:0-Führung, Torschütze war jeweils Ermedin Demirovic.
Keine Dominanz und kein Powerplay von Schalke - trotz Überzahl
Dass die Schalker durch Terodde und den starken Mittelfeldspieler Tom Krauß zum Ausgleich kamen, war der Lohn ihres immensen Engagements und - siehe oben - gelegentlicher spielerischer Momente. Dominick Drexler bereitete beide Treffer mit gewitzten Pässen vor. "Wir waren komplett da, die Fans waren da, es war Gänsehaut-Stimmung", resümierte Terodde, "es war alles da, um zu gewinnen". Fast alles. Was fehlte, waren die Regisseure auf dem Platz und jenseits der Seitenlinie, die die aufgewühlten Gemüter beruhigten, denn unter dem Einfluss des tobenden Publikums und in der Euphorie über die Rückkehr ins Spiel verloren die Schalker die Selbstkontrolle. Sie bauten keine Dominanz und kein Powerplay auf, sondern halfen mit planlosem Vorwärtsdrang und wilder Hektik dem angeschlagenen Gegner wieder auf die Beine.
"Die Jungs waren ein bisschen unruhig, ein bisschen zu gierig", stellte Kramer später gütig fest, als ob er über Sechsjährige sprechen würde. Beruhigende Passagen, Seitenverlagerungen, sicheres Pass-Spiel - all das, bestätigte Kramer, wäre sinnvoll gewesen. Entsprechend eingegriffen hat er nicht. Der Siegeswille sei halt stärker gewesen, sagte er, "die Jungs wollten es direkt machen und erzwingen - ich denke, das darf man ihnen nicht vorwerfen". Umso strenger dürfte sich der Vorwurf nun gegen ihn wenden. Garantiert das nächste Kapitel im Schalker Traditionstheater: die Trainerdiskussion. Beim nächsten Spiel ist das sogar beiderseitig das passende Thema - es geht nach Leverkusen.