Woran erkennt man, dass ein Spieler verstanden hat, was sein Trainer von ihm will? Ein gutes Zeichen ist: Er spricht genau jene Worte, die sein Coach auch immer aus seinem Satzbaukasten kramt. Ludovit Reis, Mittelfeldmann des Hamburger SV, ist so ein Spieler. Er kann auswendig aufsagen, was der HSV-Coach Walter immer in Interviews oder im Kreis der Mannschaft predigt, und wenn er das Erlernte vorträgt, wirkt er ein wenig wie ein Musterschüler, der für seine Klasse ein Referat samt Hand-Out-Blättern vorbereitet hat. Mit dem Unterschied, dass der Niederländer eher nicht zu den unbeliebten Strebern, sondern zu den Coolen in der Schule zählen würde.
Das sieht dann in etwa aus wie zu später Stunde am Donnerstag, als Reis, 22, in der Mixed-Zone des Berliner Olympiastadions nach seiner Einschätzung zum 1:0-Sieg des HSV in der Aufstiegsrelegation gegen Hertha BSC gebeten wurde. Es war Reis, der den Treffer erzielt hatte, mit einer abgerutschten Flanke, die dennoch höchsten ästhetischen Ansprüchen genügte und seinem Team eine exzellente Ausgangsposition für das Rückspiel an diesem Montag (20.30 Uhr) einbrachte. "Ist doch egal", sagte Reis über sein Kleinkunstwerk und schaute dabei wie jemand, der gerade einen rauchenden Colt in die Hosentasche gesteckt hat: "Tor ist Tor. Uns es ist egal, wer die Tore bei uns erzielt. Wir bleiben bei uns. Wir glauben an unseren Plan."
Zu Reis' seltsamem Karriereweg zählten die Stationen Barcelona und Osnabrück
Es ist immer ein kleiner bis mittelgroßer Kunstgriff, wenn es heißt, der Fußballer A stehe exemplarisch für die Entwicklung von Mannschaft B oder das Weltbild des Trainers C. In diesem speziellen Fall muss das aber schon fast als amtlich beglaubigt gelten, denn die Geschichte des Mittelfeldmanns Reis ist auch die Geschichte des neuen HSV.
Gemeinsam haben sie in dieser Saison langsam ins Erwachsenenleben getapst, sie haben einen Fußball gespielt, der kindlich naiv wirkte und mittlerweile die Reife eines guten Cognacs ausstrahlt. Der HSV war in den vergangenen Jahren eine Fähnchen-im-Wind-Mannschaft, die von kleinsten Widerständen umgeblasen wurde. Inzwischen sieht es eher danach aus, als brauche diese HSV-Mannschaft Hürden und Widerstände, um so richtig in Fahrt zu kommen.
Dass Reis zu Saisonbeginn beim HSV gelandet ist, kann er wahrscheinlich selbst nicht plausibel erklären, seine Laufbahn sieht aus als habe sie ein ziemlich wilder Zufallsgenerator erstellt. Der Niederländer begann in der Jugend des FC Groningen, er galt als passversierter und dauerlaufender Mittelfeldmotor, und weil solche Spielertypen in Katalonien traditionell hoch angesehen sind, wurde bald der FC Barcelona bei ihm vorstellig. Reis habe alles, so die damalige Einschätzung, um es zu packen. Was in Scouting-Berichten aber schwerer zu erfassen ist, sind sogenannte weiche Kriterien wie Mut und Selbstbewusstsein. In Barcelona kamen sie schnell zu dem Urteil: Kicken, das kann dieser Ludovit Reis. Aber er ist zu weich, um auf diesem Niveau zu bestehen.
HSV-Coach Tim Walter hat eine Mini-Revolution beim Traditionsklub vollzogen
Seinen nicht gerade logischen Sprung in den Profifußball ging Reis vor zwei Jahren beim VfL Osnabrück, in einer robusten Zweitligamannschaft, die aber aber nicht gerade Barcelona-Kombinationfußball spielte. So genau kann keiner erklären, wie diese Transaktion zustande kam, die Osnabrücker hatten Interesse, Reis hatte zumindest nichts dagegen einzuwenden. Nach einem soliden-Zweitliga-Jahr verpflichtete ihn der HSV ablösefrei, auch das war kein wirklich erwartbarer Transfer.
Aber beim HSV wussten sie, dass Reis gut passen könnte in die Mini-Revolution, die sie in der neuen Saison vollziehen wollten. Sie wussten, dass er gut zum Trainer Tim Walter passen würde. Walter verehrt fachlich Pep Guardiola, er lässt einen komplexen Kombinationsfußball spielen und sonst nichts. Beim Thema Mannschaftsführung ist er aber eher der Kategorie "oldschool" einzuordnen, er redet seine Spieler stark und kitzelt die letzten Reserven aus ihnen raus. Tim Walter war das, was Ludovit Reis gebraucht hat.
Hertha in der Relegation:"Der Prince ist ein Finalspieler"
Hertha-Trainer Magath setzt im entscheidenden Relegationsduell auf Kevin-Prince Boateng - und schiebt dem Hamburger SV klar die Favoritenrolle zu.
Auch wenn die Lage aussichtslos erscheint - der HSV gibt sich nicht mehr geschlagen
Bei seinen ersten Einsätzen für den HSV war Reis noch eher verhalten, er bremste ab, wenn er in die Vertikale rennen konnte und zögerte zu lange, wenn der Risiko-Pass das nötige Stilmittel war. Doch der niederländische U21-Nationalspieler traute sich immer mehr zu, er stabilisierte sich und sein Spiel und legte damit dieselbe Entwicklung zurück wie der ganze HSV. Die junge Walter-Elf hat es in die Relegation geschafft, weil sie sich in den entscheidenden nicht geschlagen gab und Spiele drehte, die früher in einem Debakel geendet wären. Oft war es Reis, der die entscheidenden Tore schoss oder vorbereitete.
"Druck ist ein Privileg", sagte Walter am Sonntag. "Wir sind mutig und überzeugt und werden alles raushauen, um die Fans glücklich zu machen, uns glücklich zu machen, die Stadt glücklich zu machen." Reis hat diese Maßgabe verinnerlicht, er ist dennoch ein zurückhaltender Typ geblieben. Ein einprägsamen Satz ist von ihm aber überliefert. "Fußball ist Spaß, nicht Stress", hat der Niederländer einmal gesagt.
Daran glaubt Reis, daran glaubt der HSV, daran glauben mittlerweile auch die leidgeprüften Hamburger Fans. Und dieser Glaube kann sicher nicht schaden, wenn eine Mannschaft in der Relegation um den Aufstieg spielt.