Süddeutsche Zeitung

Bundesliga:Mit Nasenbluten zum Adrenalin-Sieg

Ein Heldensolo, ein Zuckerfreistoß und ein Gesichtsfoulelfmeter: Borussia Dortmund gewinnt beim Spektakel in Leverkusen nach dreimaligem Rückstand. Trainer Marco Rose ist an seinem 45. Geburtstag trotzdem nur bedingt feierlich gelaunt - ihn ärgern die "viel zu vielen" Gegentore des BVB in den ersten Saisonwochen

Von Ulrich Hartmann, Leverkusen

Namhafte Fußballer wie Mats Hummels, Marco Reus oder Erling Haaland hatten ihm ein Ständchen gesungen, Borussia Dortmund hatte ein ebenso spannendes wie spektakuläres Bundesligaspiel in Leverkusen 4:3 (1:2) gewonnen und daheim wartete auf ihn die Familie mit einem Geburtstagsessen und mit Geschenken. Doch BVB-Trainer Marco Rose sagte am Abend seines 45. Geburtstags bei mehreren deutschen TV-Sendern: "Da bin ich sauer!" Was also war geschehen?

Mimisch hielt sich Roses Zerknirschtheit zwar in Grenzen, und der Satz ist auch ein bisschen aus dem Zusammenhang gerissen. Dennoch: Rose war trotz des Triumphs in Leverkusen, trotz eines nun guten Starts seiner neuen Mannschaft mit drei Siegen in den ersten vier Ligaspielen nebst 13 Toren und trotz des vorerst zufriedenstellenden dritten Platzes in der Tabelle nicht nur unzufrieden mit einer ganz bestimmten Zahl in Dortmunds Statistik - er ist darüber vielleicht sogar ein wenig beschämt: Neun Gegentreffer nach vier Spieltagen, so viele hatte die Borussia zuletzt vor 30 Jahren, im August 1991.

Alte BVB-Helden wie Thomas Helmer, Knut Reinhardt oder Frank Mill haben damals für den Klub gespielt. Und der neue Trainer seinerzeit hieß Ottmar Hitzfeld. Es waren dessen erste vier Ligaspiele mit Dortmund - wie jetzt auch für Rose. Hitzfeld hat mit dem BVB später zwei Mal die Meisterschaft und ein Mal die Champions League (1997) gewonnen. Mit diesem historischen Vorbild könnte sich Roses unter defensiven Gesichtspunkten mauer Einstand irgendwann als verheißungsvolles Omen entpuppen. Die vielen Gegentore - je zwei gegen Frankfurt, Freiburg und Hoffenheim und nun drei in Leverkusen - werden in der neuen Woche auf jeden Fall die Trainingsgestaltung beeinflussen. Am Mittwoch gastiert Dortmund zum Champions-League-Auftakt bei Besiktas Istanbul.

Als BVB-Kapitän Marco Reus nach dem Kraftakt in Leverkusen entnervt behauptete: "Wir können doch nicht jedes Mal drei oder vier Tore schießen müssen, um zu gewinnen", da hätte man ihm entgegnen wollen: Warum eigentlich nicht? Wem das in Leverkusen mit solcher Haltung gelingt, der kann das auch öfter anwenden: 0:1, 1:2 und 2:3 lagen die Dortmunder in einem puren Adrenalinspiel hinten, ehe sie die heikle Angelegenheit in der 71. und 77. Minute mit zwei Treffern drehten, die einer braven und demütigen oder einer zweifelnden Mannschaft niemals gelungen wären.

Malen rennt wie Forrest Gump, Guerreiro schlenzt - und Reus wird spielentscheidend getroffen

Zunächst rannte der eingewechselte Stürmer Donyell Malen samt Ball über den halben Platz, obwohl der Leverkusener Jeremie Frimpong wie ein Terrier an ihm zerrte, so dass eigentlich das Trikot hätte zerreißen oder Malen stürzen müssen. Malen aber rannte gegen die Malheure in Forrest-Gump-Manier an. Am Ende seines beachtlichen Solos gab es nachträglich Gelb für Frimpong wegen des taktischen Fouls - und Freistoß wegen eines weiteren Delikts im Fortgang der Szene, begangen durch Leverkusens Startelfdebütanten Robert Andrich. Und jenen Freistoß aus etwa 20 Metern zirkelte Raphael Guerreiro ansehnlich zum 3:3 in den Winkel.

Nur zwei Minuten später war eine blutige Nase von Marco Reus dafür ausschlaggebend, dass der BVB per Videoentscheid einen Elfmeter erhielt, den Haaland zum 4:3 (77.) verwandelte. Der Strafstoß war ebenso spielentscheidend wie umstritten. Weit nach Abpfiff führte Bayer-Geschäftsführer Fernando Carro eine Gruppe von Gästen durch die Räumlichkeiten des Stadions wie ein stolzer Führer Touristen durchs bayerische Märchenschloss. Carro ereiferte sich dabei über den Elfmeter, den er nur dann akzeptiert hätte, wenn seine Leverkusener in der ersten Halbzeit nach einer Aktion gegen Patrick Schick selbst einen bekommen hätten. Hatten sie aber nicht.

So wurde die blutige Nase von Reus zum Showdown eines über 98 Minuten hinweg denkwürdig rasanten Spiels. Reus und Leverkusens neuer Innenverteidiger Odilon Kossounou liefen einem ins Toraus rollenden Ball hinterher, die Szene schien aus Bayer-Sicht nicht mal mehr ansatzweise gefährlich zu sein, und beide hatten sich mit je einem Arm verhakt - bis plötzlich Kossounous angewinkelter linker Unterarm nach oben schnellte wie ein kleines Katapult und Reus im Gesicht traf. Im nächsten Moment lag der BVB-Stürmer im Toraus und hielt sich das Gesicht. Die Kamera, die an ihn heranzoomte, zeigte Blut. "Er hat mich getroffen, es tat weh, der Schiedsrichter hat's gepfiffen, also war es ein Elfmeter", sagte Reus später, der Schlag und das Blut waren die Indizien für ein ebenso elfmeterwürdiges wie unnötiges Foul.

"Es ist natürlich enttäuschend, dass wir nach dreimaliger Führung am Ende mit leeren Händen dastehen", sagte Leverkusens neuer Trainer Gerardo Seoane. Dennoch deklarierte er das Spiel als "Werbung für den Fußball", als etwas, "weswegen Kinder sich für Fußballspielen entscheiden". Dies war eine Erkenntnis, die über die Dortmunder hinaus noch erheblich mehr Gewinner einschloss: nämlich alle Freunde des Fußballs und solche, die es werden wollen.

Auch Rose sprach von einem "Spektakel", beklagte aber aus BVB-Sicht "viel zu viele Gegentore" und sagte dazu für seinen internationale Kader unmissverständlich: "Das ist too much." Wundern jedoch durfte sich über die Torflut niemand. 2015 war das Duell Bayer gegen Dortmund letztmals torlos ausgegangen, seither fielen in zwölf Aufeinandertreffen 49 Treffer.

Apropos Torflut: Hitzfelds BVB hatte vor 30 Jahren am fünften Spieltag sogar fünf weitere Gegentore auf einen Schlag erlitten: ein 2:5 auf Schalke. Aller Anfang ist eben schwer, weswegen Rose am Geburtstag demonstrativ zum Wuttrainer wurde.

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