Bundesliga: Mainz 05:"Einen Balkon hätten wir"

Vor dem Spitzenspiel gegen die Bayern spricht Manager Christian Heidel über die Transferpolitik, die dem Außenseiter Mainz 05 zur Tabellenführung verhalf - und warum man gedenkt, einen Platzwart aus Österreich zu verpflichten.

Moritz Kielbassa

SZ: Herr Heidel, kennen Sie die Meister-Wahrscheinlichkeit nach fünf Siegen zum Bundesliga-Start?

FSV Mainz 05 v FC Bayern Muenchen - Bundesliga

"Er ist ein Perfektionist" - sagt Christian Heidel, 47, der Manager des FSV Mainz (re.), über Trainer Thomas Tuchel (li.). Heidel, seit 1991 im Amt, war nie bei einem anderen Verein.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Heidel: Nach vier Siegen lag sie bei 34Prozent, das kam mir sehr hoch vor.

SZ: Ihr Trainer sagt: Trotz Platz eins fangen wir nicht ein Prozent zu spinnen an, die Tabelle ist unwichtig.

Heidel: Unwichtig insofern nicht, weil Mainz jetzt im Fokus steht, und das ist eine schöne Sache. Sportlich sind wir uns unserer Rolle aber absolut bewusst.

SZ: Mainz genießt die PR, ist aber kein Titel-Konkurrent für den FC Bayern?

Heidel: Nein. Ich glaube auch nicht, dass uns die Münchner so einschätzen.

SZ: Sie rechnen also nicht mit den üblichen Sticheleien der Bayern, sobald ein Außenseiter aufmuckt? Mit Fragen ähnlich jenen wie einst, als Hoffenheim an die Spitze stürmte: Wo war eigentlich Mainz in den letzten 100 Jahren?

Heidel: Nein. Und wenn doch, wäre es eine große Ehre für Mainz. Ein größeres Lob könnten wir gar nicht bekommen.

SZ: Bayern-Manager Nerlinger erinnert immerhin ehrfürchtig an 1998, als Kaiserslautern durchmarschierte.

Heidel: Als sie Meister wurden? Ach du liebe Güte! Damit befassen wir uns nicht. Wobei: Einen Balkon hätten wir.

SZ: Die Spitze erobert hat Mainz mit offensivem, frechem Fußball - inzwischen auch auswärts. Fürchten Sie dennoch, dass die Mannschaft in München erstmals Nervosität zeigt angesichts der Größe eines Gegners und eines Spiels?

Heidel: Nö, null Zweifel! Wir haben Respekt, aber wir stellen uns in München sicher nicht hinten rein.

SZ: Bayern-Trainer Louis van Gaal erwartet sie sehr defensiv.

Heidel: Die Sorge kann ich ihm nehmen. Unser Schlagwort ist: Offensiv verteidigen! Wir mauern nicht, wir werden die Bayern früh angreifen. Ob das die richtige Lösung ist, werden wir sehen.

„Ein Fall wie Schürrle ist natürlich beste Werbund für uns"

SZ: Ein anderes Schlagwort, für das Ihr Trainer Tuchel steht, ist der "Matchplan", mit dem er jede Woche sein Team auf die nächste Aufgabe einstellt.

Heidel: Thomas schaut sich jeden Gegner bis in Detail an und nimmt ihn analytisch auseinander, mit viel Videomaterial. Darauf stimmen wir jeweils die Taktik und die Aufstellung ab.

SZ: Entgegen alter Glaubenssätze wie: Never change a winning team! Oder: Wir richten uns nicht nach dem Gegner, wir ziehen unser eigenes Spiel durch! Oder: Wir brauchen eine eingespielte Stamm-Mannschaft!

Heidel: Richtig. Es ist wohl einmalig in der Liga, dass fünf Leute gewechselt werden, obwohl wir gewonnen haben. Dann gewinnen wir wieder - und wieder kommen fünf Neue rein. So viele eingesetzte Spieler sind normalerweise ein Zeichen von Schwäche oder Niederlagen. Bei uns ist das so, weil sich Tuchel für jeden Gegner Besonderes überlegt. Im Training wird die Taktik des Gegners simuliert - Tuchels Antwort darauf ist der Matchplan. Gegen Bayern, klar, spielt auch individuelle Klasse eine große Rolle.

SZ: Geht es Tuchel auch darum, mit den häufigen Rotationen möglichst viele Spieler bei Laune zu halten?

Heidel: Es zeigt sein Vertrauen in den kompletten Kader. Und es verhindert Ärger, weil jeder weiß: Er kann von der Tribüne direkt auf den Platz kommen - und umgekehrt. Manchmal weiß der Spieler sogar schon: Im übernächsten Spiel bist du wieder dabei! Qualitativ ist es der beste Kader, den Mainz je hatte.

SZ: Der seit 2009 umfangreich umgebaut wurde. Im Sommer gab es 15 Neue - und 14 Weggänge, darunter Leistungsträger wie Kapitän Hoogland und Stürmer Bancé. Neue prägende Profis heißen Holtby, Risse, Fuchs, Allagui, Rasmussen.

Heidel: Alles geschah nach Plan. Thomas hatte vom ersten Tag an klare Ideen. Der Kader war okay, wir wurden ja guter Neunter am Ende, er hatte aber Schwachstellen. Er drohte zu alt zu werden, darum trennten wir uns letzten Winter - im Guten - von verdienten Über-30-Jährigen wie Pekovic, Gunkel, Baljak. Jetzt im Sommer wurde die Umbildung abgeschlossen. Und Transfererlöse werden für Mainz immer dazugehören. Dieses Geld brauchen wir im Etat.

SZ: Der - bitte ehrlich! - wie hoch ist?

Heidel: Bei Prämien für 40 Punkte kostet die Mannschaft in dieser Saison 14,5 Millionen Euro. Und die gesamte Lizenzabteilung etwa 17 Millionen.

SZ: Das holen Sie zu weiten Teilen allein durch den Verkauf von Talent Andre Schürrle 2011 nach Leverkusen herein.

Heidel: Die Ablöse liegt unter zehn Millionen, aber nicht weit. Und sie kann erfolgsabhängig von mehreren Parametern bis 2016 auf über zehn steigen. Bei so einem Angebot kann Mainz nicht nein sagen, das ist wirtschaftlich unmöglich.

SZ: Aber Hoffenheim bot für Schürrle schon in diesem Sommer zehn Millionen?

Heidel: Ja, aber nur Leverkusen hat die für uns sinnvolle Konstellation angeboten: Finanzielle Planungssicherheit - und Wechsel erst 2011. Hoffenheims Angebot, das in der Tat so hoch war, hätte uns nichts gebracht, wir hätten die Hälfte des Gelds zum Finanzamt getragen.

SZ: Stimmt es, dass Ihnen eine Klausel bei einem Leverkusener Weiterverkauf von Schürrle 30 Prozent Beteiligung ab der zehnten Ablöse-Million sichert?

Heidel: Das ist korrekt.

SZ: Lernt man - plumpe Frage - solche Deals als Autohändler?

Heidel: Autohändler hört sich negativ an. Ich war Mitgesellschafter eines Autohauses einer bayerischen Marke. Bei anderen Managern schreibt ja auch keiner: der frühere KFZ-Mechaniker oder Elektriker. Ich hatte das Glück, den Manager-Job in Mainz von der Pike auf zu lernen und den Klub, wie mich, weiter zu entwickeln - ich habe angefangen 1991, da war unser Etat noch sechsstellig.

SZ: Jetzt soll das Modell Schürrle, das auch für Talente wie Holtby oder Risse gilt, zum Mainzer Markenkern werden: jungen Hochbegabten eine Plattform für den nächsten Karriereschritt bieten.

Heidel: Wir wollen die deutsche Topadresse für Spieler zwischen 18 und 23 werden. Uns ist klar, dass ein junger Spieler, der sich hier bewähren kann, nicht ewig in Mainz bleiben will. Es gibt höhere Ziele, und vernünftige Wege werden wir nie blockieren. Ein Fall wie Schürrle ist natürlich beste Werbung für uns.

SZ: Sie sagen: Schürrle hat mehr Dynamik als Thomas Müller. Klingt das nicht zu früh nach kommendem Weltstar?

Heidel: Man muss vorsichtig sein, das stimmt. Er ist 19, er spielt ähnlich wie Müller. Aber er hat erst vier U21-Spiele und Müller war einer der Stars der WM. Klar ist: André hat alle Anlagen, da hat Leverkusen schon genau hingeschaut.

SZ: Der derzeit überragende Lewis Holtby ist aus Schalke nur geliehen. Verstehen Sie die Kritik an diesem in der Liga immer beliebteren Geschäftsmodell?

Heidel: Nein. Eine Planung besteht immer auf kurz- und mittelfristigen Überlegungen, und das versuchen wir zu mischen. Wir sagen zum Beispiel: Lewis Holtby mit seiner Klasse hilft uns - jetzt! Auch wenn uns Schalke eine Kaufoption verweigert hat, worauf wir eigentlich Wert legen. Ein Leihgeschäft mit Option für einen langfristigen Vertrag ziehe ich grundsätzlich jedem Fix-Transfer vor! Wichtig ist, dass sich auch Leihspieler mit Mainz identifizieren, und das ist bei unserer Boyband gerade absolut der Fall. Ein Christian Fuchs (Leihgabe aus Bochum, d. Red.) hat das Gefühl, dass er bis 2030 hier spielen wird.

SZ: Wird der von Leverkusen geliehene Marcel Risse mit Schürrle verrechnet?

Heidel: Nein. Natürlich kann man sagen: Falls wir die Kaufoption für Risse ziehen - 800 000 Euro -, zieht man das ab. Aber beim Schürrle-Transfer spielte nur ein Detail eine Rolle: Leverkusen hatte sich für Risse eine Rückkaufoption für 2013 gesichert, und wir haben gesagt: Wenn Schürrle zu Euch nach Leverkusen wechselt, dann verzichtet auf diese Option. So kam es.

SZ: Sind solche Rückkauf-Optionen ungewöhnlich?

Heidel: Große Klubs wie Real, Inter, Barca machen das oft, vom FC Bayern habe ich das bisher noch nicht gehört. Und ich will noch etwas betonen...

SZ: ...bitteschön...

Heidel: Talente sind für uns ideal, wir haben ja noch andere Juwelen in der Hinterhand: Kirchhoff, Sliskovic oder Bell, den wir 1860 München geliehen haben. Aber genauso brauchen wir Routiniers: Karhan, Noveski, Soto. So jung ist unsere Mannschaft ja gar nicht, allein unsere Torhüter sind zusammen 100. Das Durchschnittsalter täuscht oftmals.

SZ: Tuchel mag auch keine starre Hierarchie im Team.

Heidel: Die ist eher flach, ja. Früher habe ich immer einen unumschränkten Chef auf dem Platz gesucht. Aber so einen van Bommel-Typ haben wir nicht - und fahren bisher gut damit. Man muss allerdings sagen: Wir haben noch keine schwierige Zeit erlebt. In guten Zeiten ist eine Hierarchie nicht so wichtig, im Moment rennen die Jungs ja von selber los.

SZ: Haben Sie Angst vor einem Absturz, vor einem Fluch der guten Taten?

Heidel: Nein, weil wir nicht verblendet sind, sondern total realistisch. Momentan läuft's wie im Kinofilm, aber unser Ziel ist der Klassenerhalt. Und völlig einbrechen? Dafür sind die Jungs zu gut!

Thomas ist ein Perfektionist, ein positiver Pedant

SZ: Der Trainer filmt sie sogar im Training: Auf einer Böschung ließ er ein hohes Holzgestell errichten, von dem aus eine Kamera alle Einheiten aufnimmt.

Heidel: Unser "Fernsehturm" aus Paletten! So nimmt Tuchel den Spielern Alibis. Die denken: Ich hab' super trainiert. Dann drückt der Trainer aufs Knöpfchen - und es gibt nur noch eine Meinung. Jedes Training ist anstrengend für den Kopf, wer nicht hochkonzentriert ist und taktische Vorgaben in beiden Spielrichtungen umsetzen kann, hat es schwer bei uns. Thomas ist ein Perfektionist, ein positiver Pedant. Er muss sehr früh aufstehen und sehr spät einschlafen - so, wie er jedes Training am Reißbrett plant.

SZ: Ist denn inzwischen der Platzwart aus Österreich verpflichtet, der Tuchel im Trainingslager so begeistert hatte?

Heidel: Greenkeeper, bitte! So einen Rasen wie dort in Mittersill hatten wir noch nie gesehen. Thomas wollte den Verantwortlichen, einen früheren Profi von Austria Wien, unbedingt kennenlernen. Er sagte: Für den verzichte ich notfalls auf einen Spieler, was natürlich plakativ gemeint war. Wir schließen eine Verpflichtung nicht aus, aber der Mann ist dort bei der Gemeinde angestellt.

SZ: Tuchel sagt, der Mainzer Fußball soll aussehen wie in der Premier League: nach Ballgewinn die Kugel mit Flachpässen und Speed nach vorne tragen! Kraftvoll und kultiviert kicken!

Heidel: Den Vergleich mit England habe ich, ehrlich gesagt, zum ersten Mal gehört. Ich dachte bei England bisher eher an Kick and Rush: hohe Bälle auf einen Stürmer wie Bancé, was früher ja unser Spiel war. Thomas hat das umgestellt. Am Anfang wunderten sich die Spieler über Passübungen im Training, sie dachten: Sind wir in der C-Jugend? Inzwischen sieht unser Spiel nach Fußball aus: flach, sicher, schnell. Das müssen auch Profis üben, die glauben, alles zu können. Tuchel denkt wohl an Arsenal, an kreativen, laufintensiven Fußball mit jungen Leuten. Auch Barcelona nennt er als Vorbild. Aber dass wir uns richtig verstehen: Wir wissen, wir sind nur Mainz 05!

SZ: Hatten Sie Tuchel wegen der Euphorie um die deutsche A-Jugend-Meisterschaft 2009 zu den Profis befördert?

Heidel: Auch das ist eine Mär. Der U19-Titel hatte damit nichts zu tun. Thomas überlegte damals, nach Hoffenheim zu gehen, er hätte das als idealen Abschluss seiner Ausbildung zum Fußballlehrer angesehen. Ich sagte: Du musst nicht mehr lernen, du kannst schon lehren, vielleicht auch mal bei den Profis. Ich versprach ihm nichts, aber er spürte: Wir würdigen seine Arbeit in der U19. Dann ging alles sehr schnell - weil wir trotz Aufstieg in die erste Liga Mainz 05 plötzlich nicht mehr erkannt hatten.

SZ: Was am autoritären Stil von Tuchels Vorgänger Andersen lag. Wie sehen Sie den Vergleich zwischen Tuchel und dem Mainzer Kulttrainer Jürgen Klopp?

Heidel: Beide stehen für kommunikative Umgangsformen, wie wir sie hier wollen. Und Mainz, das ist auch Emotion, so ticken die Menschen hier. Deshalb haben wir nichts dagegen, wenn der Trainer wie ein Irrwisch an der Linie herumläuft, den man manchmal bremsen muss - das ist mir lieber als ein Eisblock. Auch Thomas steht für diese Mentalität, obwohl er kein Mainzer ist. Der Fußball-Ansatz war bei Kloppo ähnlich, aber man muss ehrlich sagen: Er hatte nicht diese Qualität im Kader zur Verfügung wie Tuchel.

SZ: Sie selbst agieren eher unauffällig, die Schlagzeilen absorbiert der Trainer.

Heidel: Wie bei Kloppo habe ich null Probleme damit, dass der Trainer in der Außendarstellung das Mainzer Gesicht ist. Das steuern wir ja, das ist prima. Ich bin gebürtiger Mainzer, für mich ist es das Größte, wenn uns die Leute die Bude einrennen und sich mit Mainz 05 identifizieren. Ich weiß, wo wir herkommen, wie alles begann, denn ich war dabei: auf einer besseren Bezirkssportanlage, 3000 Zuschauer. 2011 kriegen wir ein tolles, Mainz-typisches neues Stadion.

SZ: Und die sportliche Mitsprache?

Heidel: Da halte ich mich raus. Ich mache keine wöchentlichen Brandreden in der Kabine und setze mich auch nicht als Aufseher neben den Trainer. Ich vertraue ihm. Und das spürt er.

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