Süddeutsche Zeitung

Bundesliga: Mainz 05:Kloppo reloaded

Der starke Aufsteiger Mainz fand Topscorer Ivanschitz im Internet, Torhüter Müller in der zweiten englischen Liga - und Trainer Tuchel in der eigenen Jugend.

Moritz Kielbassa

Flüchtig aus der Ferne betrachtet, war der erste Trainerwechsel dieser Saison ein unseriöser: Mainz entließ Jörn Andersen, den frisch Aufgestiegenen, noch bevor das erste Spiel gespielt war. Drei Monate später darf die gewagte Aktion als gelungen gelten. Der FSV ist als Achter die überraschendste Attraktion der Bundesliga.

Und Thomas Tuchel, der ohne Profireferenzen beförderte Nachfolger Andersens, erbringt gerade den Beweis, dass das emotionale Mainzer Fußballbiotop - Helau! - auch ohne Jürgen Klopp funktioniert. Im Gegensatz zu Robin Dutt, der den SC Freiburg von Volker Finke emanzipiert hat, scheint Tuchel demselben Reagenzglas zu entstammen wie der, an dem ihn alle messen. Er ist, man verzeihe den Anglizismus: Kloppo reloaded.

Tuchel, 36, bedient die Bedürfnisse des impulsivsten Klatschpublikums der Liga: Er steht für Fußball mit System und Hingabe, mit hoher Rennbereitschaft und pfiffigen Außenseiter-Strategien. Als junger Spieler nervte er die Trainer, weil er vieles nörglerisch hinterfragte. Heute entwirft der bekennende Rangnick-Epigone selber "Matchpläne", er kommuniziert viel und zeigt in der Kabine Motivationsvideos (Al Pacino, Rugby). Seine Selbstdarstellung wirkt bisher angenehm dezent, sein Team lenkt er mit lässiger Autorität - anders als Andersen, der durch Eitelkeit und harte Umgangsformen kaum noch Bezug hatte zu Spielern und Klubmilieu.

In Wolfsburg gefielen die heimstarken und bisher gnadenlos effizienten Mainzer nun auch auswärts. Tuchel feierte den Punkt beim Meister nicht, er bedauerte das "möglich gewesene 4:3" - es ist der Habitus des Hungrig-Bleibens. Aber der aktuelle Mainzer Lauf wird sicher nicht ewig währen. Dann muss sich Tuchel, der Euphorieentfacher, auch als Euphoriewiederhersteller bewähren; viele sagen, erst darin zeige sich ein großer Trainer.

Schon jetzt bereichert seine treffsicher verstärkte Elf die Liga. Dabei hat Mainz kein so verästeltes globales Scoutingnetzwerk wie viele Mitbewerber. Manager Christian Heidel, ein gelernter Autoverkäufer und Kettensatz-Konstrukteur, sucht Spieler eher auf Abstellgleisen als in Edelboutiquen. Durch eigene Internetrecherche stieß er auf seinen Schlüsseltransfer: Andreas Ivanschitz. Bei Panathinaikos Athen und in Österreichs Nationalteam hatte der Mittelfeldkünstler schlechte Papiere - jetzt ist er Topscorer der Bundesliga (sechs Tore, sechs Vorlagen). Auch Torwart Heinz Müller war ein Schnäppchen.

Für seine wichtigste Dienstreise benötigte Heidel weder Späher noch Spesen, nur seinen Bauch. Er sah im Frühjahr der Mainzer A-Jugend beim Spielen zu. Der Trainer hieß Tuchel.

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SZ vom 02.11.2009/jüsc
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