Bundesliga:Stuttgart im Würgegriff

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Leverkusens Granit Xhaka (Mitte) greift gegen Stuttgarts El Bilal Touré zu robusten Mitteln. (Foto: Martin Meissner/AP)

Meister Leverkusen hadert mit dem torlosen Remis gegen den VfB – trotzdem ist ersichtlich: Mehr Niveau und Vergnügen bietet derzeit kein anderes Duell in der Bundesliga.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Auch nach der Halbzeitpause schien zur allgemeinen Überraschung wieder der Mond über dem Spielfeld in der Leverkusener BayArena. Nicht der allseits geschätzte Erdtrabant, der am Freitagabend im Rheinland hinter Wolken verborgen blieb, sondern der Mond im übertragenen Sinn, denn kein Kopf der Bundesliga leuchtet zurzeit wirkungsvoller auf dem Rasen als der hell blondierte von Robert Andrich. Und dass der Nationalspieler weiterhin am Spiel zwischen Bayer 04 und dem VfB Stuttgart teilnahm, das durfte die Besucher im Leverkusener Stadion schon verwundern. Andrich war bereits mit der gelben Karte verwarnt und wandelte mit seinem forcierten Einsatz in scheinbar jedem Moment am Rande des Platzverweises.

Aber Xabi Alonso setzte weiterhin Vertrauen in Andrichs Selbstbeherrschung und schickte den Mittelfeldspieler wieder ins Match, was eine ebenso mutige und charakteristische wie richtige Entscheidung war. Andrich ist unter dem Regime des spanischen Trainers vom gehobenen Haudrauf-Sechser, der er 2021 nach dem Wechsel aus Berlin zu Bayer 04 noch war, zu einer souveränen Autorität mit hohem spielerischem Anspruch gereift. Er verkörpert das in beide Richtungen zielende Alonso-Ideal: Er beschleunigt und inspiriert die Kombinationsmaschinerie, sucht den geraden Weg zum gegnerischen Tor, tritt couragiert und verantwortungsvoll auf – und er kann dem Gegner mit seinen harten, bissigen und manchmal bösartigen Attacken nicht nur auf die Nerven gehen, sondern auch das Spiel verderben. Deshalb hat er die teaminternen Konkurrenten Exequiel Palacios und Aleix Garcia hinter sich gelassen und seinen Platz in der Nationalelf gefunden.

An diesem Abend hatte Andrich eben jenes vielseitige Profil, um die hart umkämpfte, zugleich spielerisch hochwertige Partie zwischen Bayer und dem VfB zu repräsentieren. Ein Treffer ist aber weder ihm noch sonst einem der insgesamt 30 Akteure gelungen, die am Freitag zum Einsatz kamen. Das 0:0 hinterließ unter anderem einen am verpassten Sieg heftig verzweifelnden Florian Wirtz, eine für den Punktgewinn dankbare Stuttgarter Belegschaft und ein Publikum, das sich keine Sekunde hatte langweilen müssen. Das fünfte Treffen zwischen den beiden Teams innerhalb eines Jahres – Pokal und Supercup inklusive – bestätigte den Eindruck der vorigen Begegnungen: Mehr Niveau und Vergnügen vermag Bundesligafußball zurzeit in keiner anderen Paarung zu bieten.

Es herrschte Daueralarm in der VfB-Abwehr, doch ein Tor gelang Leverkusen nicht

Vermutlich werden viele Kritiker nun trotzdem feststellen, dass Bayer nicht mehr unwiderstehlich wie ein Champion spiele und zu viele Punkte abgebe, und dass der VfB nun die Risiken und Nebenwirkungen seines plötzlichen sportlichen Aufschwungs zu spüren bekomme. Ganz falsch ist das zwar nicht, aber auch auf keine Weise verwunderlich, es konnte ja weder in Leverkusen noch in Stuttgart so weitergehen wie im verzauberten Vorjahr. Und weder Xabi Alonso noch Sebastian Hoeneß hatten am Freitag Anlass zu meinen, dass ihre Teams den Rückschritt in den Zweckfußball angetreten hätten. Stilistisch halten beide Trainer unter stark veränderten Rahmenbedingungen ihren Kurs. Die Mühen im Alltag sind erkennbar, beide Seiten gewinnen seltener, doch fußballerisch gefallen sie weiterhin.

Am Freitagabend hatte Bayer mehr zu bieten als der in der Abwehr ersatzgeschwächte VfB. Ein Widerspruch gegen diese Feststellung sei nicht möglich, diktierte Hoeneß: Dass der VfB glücklich zu einem Unentschieden gelangt war, „das war ganz offensichtlich, da kann es keine zwei Meinungen geben“, erklärte der Coach. VfB-Manager Fabian Wohlgemuth spürte noch eine halbe Stunde nach dem Abpfiff den Würgegriff der Hausherren („Leverkusen hat uns kaum Luft zum Atmen gelassen“).

Deniz Undav hätte zwar auf seine gerissene Weise in einem der wenigen lichten Momente der VfB-Offensive beinahe das 1:0 erzielt, doch das Gros der knappen Situationen gab es auf der Gegenseite. Alonso hatte gegen seine Gewohnheit eine klassische Viererkette aufgestellt, in der Nordi Mukiele und Piero Hincapié als Außenverteidiger fungierten. Jeremy Frimpong und Alejandro Grimaldo wurden dadurch zu hauptamtlichen Flügelstürmern befördert. Das Ergebnis: Daueralarm in der VfB-Deckung. Dennoch verzichtete Hoeneß auf den Igel-Modus und hielt an der riskanten Methode fest, die Bayer-Offensive in Eins-gegen-eins-Duellen zu bekämpfen, was vor allem Victor Boniface zu nutzen wusste.

„Die beste Leistung der Saison“ erkannte Granit Xhaka im Auftritt seines Teams. Leverkusens Mittelfeldchef, in der Bayer-Kabine im Rang des Generalobersts, hatte vor ein paar Tagen angeprangert, dass es die Kollegen zu oft an Intensität und Entschlossenheit hätten fehlen lassen. Nun gab es zwar wieder nur ein Remis, das in der Tabelle beiden Seiten nicht viel bringt, „aber ich bin der Meinung, dass uns der Punkt weiterbringen wird“, betonte Xhaka. Sein Team, fand er, habe sich endlich wieder mit dem nötigen Krafteinsatz an das Niveau der vorigen Saison herangearbeitet.

Ob der Preis der Anstrengungen, der beim Neo-Klassiker der Liga fällig wurde, vielleicht zu hoch war, werden beide Seiten in der nächsten Woche wissen: Der VfB empfängt in der Champions League Atalanta Bergamo, Bayer reist zum FC Liverpool, Xabi Alonsos ehemaliger Heimat als Profi. Die Termine zeigen, auf welcher Stufe der Beanspruchung die Überflieger der Vorsaison gelandet sind.

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