Süddeutsche Zeitung

VfL Wolfsburg:Ein kleines bisschen Erlösung für Kovac

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Der zuletzt stark kritisierte Wolfsburger Trainer treibt sein Team mit penetrantem Dauercoaching zum Last-Minute-Sieg gegen Stuttgart - und verteilt danach ein seltenes Sonderlob.

Von Thomas Hürner, Wolfsburg

Seit Samstagnachmittag weiß man: Niko Kovac kann pfeifen. Ziemlich laut sogar. Beim Pfeifen gibt es bekanntlich verschiedene Techniken, aber der Trainer des VfL Wolfsburg nutzte ausschließlich die Variante, in der man sich den Daumen und den Zeigefinger in den Mund steckt, tief Luft holt und diese wieder so stark aus den Lippen drückt, dass ein schriller Ton entsteht. Ein Signalton, um genau zu sein: Sobald Kovac pfiff, wussten die Wolfsburger Spieler, dass sie ihren Blick an die Seitenlinie richten sollten, von wo aus weitere Instruktionen folgten. Ein wenig mehr nach links oder rechts schieben, fallen lassen, noch schneller den Vertikalpass versuchen, die Intensität hochhalten - das dürften in etwa die Anweisungen gewesen sein, die der permanent gestikulierende Kovac übermitteln wollte.

Und er tat es erfolgreich: Wolfsburg gelang mit dem 3:2 gegen den VfB Stuttgart der zweite Saisonsieg. Es war damit auch ein wichtiger Erfolg für den neuen VfL-Coach Kovac, der zuletzt stark in der Kritik stand, weil die Wolfsburger Mannschaft bisweilen lasch, leidenschaftslos und unkoordiniert gewirkt hatte. "Uns wurde vorgeworfen, dass wir nicht die nötige Moral auf dem Platz haben", sagte der Wolfsburger Mittelfeldmann Yannick Gerhardt, dem in der Nachspielzeit der späte, aber verdienten Siegtreffer gelang: "Teilweise zu Recht. Aber heute war das nicht der Fall, denn wir haben es geschafft, die Basics umzusetzen."

Kovac hatte zuletzt das Temperament der VfL-Spieler vermisst

Und Kovac wollte in dieser Hinsicht offenbar nichts dem Zufall überlassen. Bei seinem penetranten Dauercoaching schien es nicht nur um taktische Feinheiten und Veränderungen zu gehen, um die richtige Formation beim Spielaufbau und den richtigen Moment fürs Gegenpressing. Er schien eine Ebene tiefer anzusetzen, am Fundament, an den Grundinstinkten von Profifußballern: Diesen einen Meter mehr gehen als der Gegner, die Konzentration hochhalten, die Spannung in Kopf und Gliedern. "Ich bin eben ein sehr temperamentvoller Mensch", sagte Kovac, der dieses Temperament in den vergangenen Wochen von seinem Spielern vermisst hatte. So, wie die Zuschauer in der Wolfsburger Arena, die zuletzt auch sehr viel gepfiffen hatten, nur halt aus einer anderen Motivation als der VfL-Coach. Oder wie der Aufsichtsratschef Frank Witter, der unter der Woche im kicker gefordert hatte, es gelte nun aus dem "Kader am Ende ein Team zu formen, in dem jeder die Bereitschaft und den Willen hat, an seine Grenzen zu gehen und sich uneingeschränkt für die Mannschaft und den Verein einzubringen".

Im Subtext bedeutete das so viel wie: Kommt mal bitte schön in die Gänge, ihr bequemen und gut bezahlten VfL-Fußballer - und Sie, Herr Kovac, sind langsam in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass das passiert.

Das Spiel gegen den VfB war aus Wolfsburger Sicht nun ein erster, kleiner Schritt in diese Richtung. Wozu aber auch der Gegner so einiges beitrug, der laut des Stuttgarter Sportdirektors Sven Mislintat eine erste Halbzeit darbot, die als die bislang "schlechteste der Saison" in die Chronik eingehe. Das waren harsche Worte, aber sie waren von der Realität gedeckt. Die Stuttgarter präsentierten sich über weite Strecken als der ideale Gegner, um einer verunsicherten Wolfsburger Heimelf aus dem Formtief zu helfen. Einen Großteil der Partie brachte die Gästemannschaft kein strukturiertes Offensivspiel zustande und auch keine spontane Kreativität, es ging vorne nur etwas zusammen, wenn die eigentlich gut strukturierten Wolfsburger ein wenig Beiwerk leisteten. Zum Beispiel, als der VfB-Stürmer Serhou Guirassy nach einem Querpass freistehend im Strafraum zur 1:0-Führung traf (22. Minute). Oder als der Stuttgarter Verteidiger Konstantinos Mavropanos in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit per Kopf den zwischenzeitlichen 2:2-Ausgleich herstellte, weil auch er von den Wolfsburger Defensive sträflich ignoriert worden war.

"Die Mannschaft hat bis zuletzt daran geglaubt", sagte Kovac

Anders war das bei den Wolfsburgern, deren in dieser Saison bislang eher dysfunktionales Angriffsspiel erstaunlich beschwingt daherkam. Das Sturmproblem des VfL ist noch nicht abschließend überwunden, aber es zeigte sich, war für einen Unterschied es machen kann, wenn Offensivdribbler wie Omar Marmoush und Kevin Wimmer gemeinsam wirken dürfen. Der zuletzt formschwache Ex-Stuttgarter Marmoush, der die VfB-Abwehr immer wieder durcheinanderwirbelte, traf per Rechtsschuss zum 1:1 (23.). Der lange verletzte Zugang Wimmer erzielte zwar kein Tor, war mit seinem Tempo aber ein derartiger Unruheherd, dass er sogar ein seltenes Sonderlob vom VfL-Coach Kovac erhielt. Und dann war da noch der Mittelfeldchef Maximilian Arnold, der in dieser Saison ebenfalls unter seinen Möglichkeiten geblieben war und nun - auch dank eines Fehlers des VfB-Torwarts Müller - mit einem Fernschuss zum 2:1 traf (38.).

Die Wolfsburger machten den etwas besseren Eindruck, auch weil sie mehr investierten als die auf Konter lauernden Gäste, und sie blieben auch dann noch bei der Sache, als das Spiel in der zweiten Hälfte zerfahrener wurde. "Die Mannschaft hat bis zum Schluss daran geglaubt", sagte Kovac, doch maßgeblich war vor allem, dass ihr kurz vor dem Schlusspfiff noch ein sehenswerter Spielzug gelang: Nach einem Doppelpass mit Marmoush verlängerte Mattias Svanberg per Kopf zum zuletzt ebenfalls lange verletzten Gerhardt, der aus kurzer Distanz den aus Wolfsburger Sicht erlösenden 3:2-Siegtreffer besorgte. Laut Statistik war das eine Aufgabe, die zu 99 Prozent gelingen muss, aber das muss ja nichts heißen, weil die seit mehr als einem Jahr kriselnden Wolfsburger sich zuletzt auch nur selten an die üblichen Gesetzmäßigkeiten im Fußball gehalten haben.

Für VfL-Trainer Kovac, der sich seines Jobs bis auf Weiteres sicher sein darf, steht daher fest: "Vorher war nicht immer alles schlecht, jetzt ist nicht alles top. Wir werden die Kirche also im Dorf lassen."

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