Marco Reus wählte den Gesichtsausdruck eines Mannes, der nicht auffallen möchte, als er durch das Gedränge ins Freie schlich. Der seit Mai verletzt pausierende und dringend vermisste Nationalspieler hatte zum nahezu unglaublichen 4:4 des BVB im 151. Pflichtspiel gegen Schalke 04 genau so viel mitzuteilen wie die meisten Spieler, die an der Partie aktiv teilgenommen hatten: nichts. Es herrschte beschämtes, bedrücktes Schweigen rund um die Kabine von Borussia Dortmund.
Man sah Mario Götze mit einer erstarrten Bittermiene wie aus Mörtel (und einem dicken gelben Verband um den offenbar lädierten Knöchel), einen finster dreinblickenden Andrij Jarmolenko, dessen Gefolge die Reporter aus der ukrainischen Heimat recht rüde abwimmelte, und man konnte, wenn man genau hinschaute, einen sehr bärtigen, zugeknöpften und bemützten André Schürrle erkennen, der zwar wieder nicht mitgespielt hatte, aber trotzdem den Büßerblick aufsetzte.
Ferner bewegte sich der Aushilfstorwart Roman Weidenfeller durchs Getümmel, der das Team kraft seiner Routine vor den Fernsehkameras vertrat und dabei Kritik äußerte, die sich zwar an alle richtete, aber niemanden betraf ("jeder einzelne sollte sich hinterfragen, ob er noch alles in die Partie reingelegt hat"), weshalb sie komplett belanglos blieb.
Watzkes Worte an Bosz lassen sich als Ultimatum deuten
Doch was soll ein Borussia-Profi auch Wertvolles mitteilen, nachdem er eben noch im geheiligten Revierderby am Rande der größten denkbaren Schande wandelte? Es fehlte augenscheinlich nicht viel, und dann hätte der BVB dieses Spiel, das er doch längst schon hoch gewonnen hatte, noch verloren. "Fünf Minuten mehr, und wir hätten auch noch das fünfte Tor gemacht", sagte Schalkes serbischer Verteidiger Matija Nastasic, ein Mann, der des Tagträumens unverdächtig ist. Borussia Dortmund musste also froh sein, dass es nach einer 4:0-Führung zur Pause wenigstens ein 4:4 mit nach Hause nehmen durfte.
Das warf Fragen an den Cheftrainer Peter Bosz auf, dem zuletzt ständig unangenehme Fragen gestellt worden waren. Man hatte diese Partie zum Endspiel für Bosz erklärt, und da die BVB-Oberhäupter Michael Zorc und Hans-Joachim Watzke dieser Bewertung keineswegs entgegengetreten waren, sah es am Samstagabend nicht gut aus für den Job des im Sommer angeworbenen und nun ziemlich trostlos dastehenden Niederländers. Die TV-Sender disponierten schon mal ihre Teams für Sonderübertragungen von der Borussia-Hauptversammlung am nächsten Vormittag.
Revierderby:Ein Tag, der Dortmund lange beschäftigen wird
In der ersten Halbzeit gelingt dem BVB alles, in der zweiten Hälfte fallen alle Systeme aus. Trainer Peter Bosz ist nach dem 4:4 ratlos, Schalkes Leon Goretzka verspricht sich - oder auch nicht.
Dass am Sonntag der Geschäftsführer Watzke eine Garantie für Bosz' Bleiberecht abgab, wird diesen allerdings auch nur bedingt beruhigen, denn es war keine bedingungslose Liebeserklärung, die der Trainer zu hören bekam, sondern die Verkündung eines vorläufigen Duldungsbeschlusses. "Ich habe die klare Erwartung an dich, Peter, dass ihr in dieser Woche alles auf den Prüfstand stellt, jeden Stein umdreht", sagte Watzke vor der Vereinsgemeinde, die beim Einzug des Profiteams in den Saal dem Beispiel der Fankurve vom Vortag folgte: Sie pfiff die Spieler laut und leidenschaftlich aus. "Wir müssen ganz schnell wieder in die Erfolgsspur", befahl Watzke, "die Champions-League-Qualifikation steht über allem." Diese Worte als Ultimatum zu deuten, erscheint nicht verwegen. Zurzeit ist es wohl vor allem der Mangel einer geeigneten Alternative, der Bosz zum Erhalt seines Postens verhilft.
Am Samstagnachmittag um vier sah das Dortmunder Drehbuch für die Vollversammlung noch ganz anders aus. Wahrscheinlich hätte der Stadionconferencier Norbert Dickel zu Fanfarenklängen den Aufmarsch der Derbyhelden angekündigt, es hätte großen Beifall und Spottgesänge auf die Schalker Verlierer gegeben. "Wenn wir 4:1 oder 4:2 gewonnen hätten, dann hätte es überall geheißen: ,Grandiose taktische Leistung. Peter Bosz hat den Gegner komplett zerlegt.'" Was sogar dessen Schalker Kollege Domenico Tedescho bestätigte. Mit der Taktik der Gegenseite habe er nicht gerechnet, lobte er Bosz' effektvollen Systemwechsel (von 4-3-3 auf 3-4-3).
Das Problem war allerdings, dass alle Komplimente für den Taktiker Bosz ins Leere liefen, denn die Borussia legte zwar nach dem Prinzip Jeder-Schuss-ein-Treffer ein 4:0 vor, ließ dann aber schlagartig mit der Herrlichkeit nach. Die Borussen schienen im Ist-Zustand zu verharren. Nuri Sahin bemerkte, dass schon die fünf Minuten vor der Pause "nicht mehr gut waren. Okay, habe ich mir gedacht, jetzt retten wir uns in die Halbzeit und reden drüber".
Wenn sich ein Team, das 4:0 führt, in die Pause "retten" muss, dann befindet es sich im fortgeschrittenen Notstand. Eine große Chance nach der anderen bekamen die Gäste, da komme man "ins Grübeln", sagte Sahin, "und wenn man in der Bundesliga auf dem Platz anfängt nachzudenken ...". Nach dem 2:4 durch Harit wechselte Bosz, um das Ergebnis zu sichern - und machte so alles noch schlimmer, weil der eingewechselte Zagadou dem Nervenkitzel nicht gewachsen war und Mitschuld am 3:4 und 4:4 trug. Dann ließ sich auch noch ein haltloser Aubameyang vom Platz stellen - Schalke ging auf die Jagd, der BVB brauchte laut Sahin den Notarzt: "Der eine oder andere dachte sich: Passiert das wirklich? Kann das wirklich passieren?"
Immerhin: Peter Bosz hat ein Derby für die Ewigkeit mitgestaltet. Aber dass er das 152. Derby ebenfalls gestalten darf, das erscheint eher unwahrscheinlich.