Süddeutsche Zeitung

Bundesliga:45 Minuten Aufbegehren gegen den Winter

Von Dirk Gieselmann, Berlin

Wo liegt der kälteste Ort der Welt? Darauf gibt es je nach Betrachtungsweise mehrere Antworten. Meteorologen sagen, es sei Oimjakon in der russischen Teilrepublik Jakutien, offizieller Rekord minus 67,8 Grad Celsius, gemessen 1933. Menschen, die unter Trennungsschmerz leiden, sagen, es sei das Herz ihres Ex-Partners. Und wer am Freitagabend dort war, der sagt wohl, der kälteste Ort der Welt sei das Olympiastadion von Berlin. Hertha gegen Schalke. Der Siebte gegen den Zwölften. Bei drei Grad unter Null.

Unter der Woche war erstaunlich breit diskutiert worden, ob Handball nicht dem Fußball vorzuziehen und also der neue Volksport sei. Es gibt einige gewichtige Argumente dagegen, aber mindestens eines dafür: Beim Handball ist es auch im Winter warm. 43 027 Menschen kamen dennoch hinaus ins Westend, um Fußball zu gucken. Die Ränge wirkten sogar ein bisschen voller, vermutlich weil alle so dicke Jacken anhatten. Bier gab es nur alkoholfrei zu kaufen, eine behördliche Präventionsmaßnahme gegen Gewalt im Stadion. Man traut Herthanern und Schalkern anscheinend zu, sich im angetrunkenen Zustand noch ein bisschen weniger zu mögen als sonst. Doch immerhin konnte der eine oder andere Flachmann hinein geschmuggelt werden und kursierte in den Reihen, für den Schluck gegen die innere Kälte. Eltern wickelten ihre bibbernden Kinder in mitgebrachte Wolldecken.

Frank Zander indes trug beim Singen der Vereinshymne in heroischer Verachtung der Wetterlage eine Sonnenbrille. Schneegriesel ging auf den Barden hernieder, als er die Fans in der Ostkurve wie immer fragte: "Freunde, was gibt es Schöneres, als hier im Stadion unserer Hertha-Mannschaft die Däumchen zu drücken?"

Es war zunächst ein ganz tolles, wildes, geradezu herzerwärmendes Spiel

Sollte tatsächlich irgendjemandem ganz spontan die Antwort "Handball in der warmen Stube gucken vielleicht" durch den Kopf geschossen sein, wird er sie vom Anpfiff weg wieder vergessen haben. Denn alles, was in dieser ersten Halbzeit geschah, jeder Sprint, jeder Zweikampf, jede Grätsche, sogar die rudernden Gesten der Trainer Pal Dardai und Domenico Tedesco, muteten an wie ein Aufbegehren gegen den Winter. Es war zunächst ein ganz tolles, wildes, geradezu herzerwärmendes Spiel.

Das 0:1 durch Jewhen Konopljanka in der 17. Minute, ein kunstfertig angeschnittener Distanzschuss aus halblinker Position, eröffnete einen offenen Schlagabtausch. In der 39. Minute erzielte Marko Grujić frei vorm Tor den Ausgleich, freigespielt durch eine genialische Hackenvorlage von Ondrej Duda, die jeden mit der Zunge schnalzen ließ, dem sie noch nicht am Gaumen festgefroren war. Herthas Davie Selke verstrickte noch aus dem Jubel heraus Schalkes Sebastian Rudy in eine Schubserei, weil dieser offenbar seine Freude über den schönen Treffer nicht teilen wollte. Doch die Mitspieler und der souveräne Schiedsrichter Dr. Felix Brych konnten sie trennen. Selke und Rudy sahen die gelbe Karte.

Mark Uth erzielte in der 44. Minute nach einem Pass von Bastian Oczipka in den Rückraum aus zehn Metern die erneute Führung für Schalke, bevor Vedad Ibisevic in der Nachspielzeit eine Flanke von Selke einköpfte, den die Schalker mieden, als hätte der Stürmer eine ansteckende Krankheit. Auch dies ein ausgesprochen schönes Tor, da man ihm ansah, dass Ibisevic nicht zum ersten Mal geköpft hatte. Sein 118. Bundesligatreffer war eine Demonstration der Routine, Präzision und altmeisterlichen Gelassenheit.

So hätte es ewig weitergehen können. Wohl niemand hätte etwas dagegen einzuwenden gehabt, wenn dieses Spiel 8:8 ausgegangen wäre, stieg doch mit jedem Tor die gefühlte Temperatur im Stadion um mehrere Grad Celsius an. Doch in der leider zwangsläufig stattfindenden Pause kroch die Kälte wieder die Beine hinauf, und die Trainer beider Mannschaften beschlossen in den Kabinen offenbar, ihr in der zweiten Halbzeit kein weiteres Offensivspektakel mehr entgegenzusetzen. Als über die Anzeigetafeln Reklame für Reisen in südliche Gefilde flimmerte, war der Sommer in diesem Spiel bereits vergangen.

Hatte es in den ersten 45 Minuten noch geradezu südamerikanisch gewirkt, kam es einem nun vor wie eine Reinszenierung des 0:0 zwischen dem KFC Winterslag und Dundee United in der dritten Runde des Uefa-Pokals 1981/82: defensiv, zäh und irgendwie lustfeindlich. Nach einer guten Stunde begannen nicht wenige Zuschauer, auf ihren Mobiltelefonen parallel das Halbfinale der Handball-WM zwischen Deutschland und Norwegen zu verfolgen.

Die Höhepunkte der zweiten Halbzeit dieses Fußballspiels, wenn man sie denn so nennen möchte, waren folgende: eine etwas kläglich vergebene Chance von Selke, bei der er bewies, dass ein Spieler mit neonpinken Schuhen in solchen Situation stets ein wenig geckenhafter dasteht, als trüge er schlichte, schwarze. Und ein seltsam unangebrachter Ausbruch von Entschlossenheit, als Herthas Valentino Lazaro, um mehr Anlauf für einen Einwurf zu haben, eine Werbebande zur Seite trat. Die anschließende Ausführung brachte dann aber nichts ein, woran man sich später einmal erinnern wird. So blieb es beim 2:2, auch dank Rune Jarstein im Tor der Berliner, der kurz vor Schluss noch zwei Mal glänzend parierte. Ein Rätsel, wie er sich trotz der inzwischen brachialen Kälte auf den Punkt genau geschmeidig gehalten hatte.

Als nach dem Abpfiff Frank Zander noch einmal "Nur nach Hause gehen wir nicht" sang, waren die meisten Zuschauer schon eben dorthin gerannt, um sich sofort in die Badewanne oder auf die Heizung zu legen. Die Journalisten hockten noch eine Weile in den Katakomben beisammen wie Bergsteiger im Basislager und wärmten ihre halb erfrorenen Schreibfinger an den Kaffeebechern. Einer berichtete, er habe sogar "akute Messnerzehen".

Auf der abschließenden Pressekonferenz sagte Hertha-Trainer Pal Dardai: "Teilweise hätten wir gewinnen können, teilweise Schalke." Er muss die erste Halbzeit gemeint haben, auf die zweite trifft beides nicht zu. Hertha bleibt vorerst Siebter, Schalke Zwölfter. Und die Temperaturen in Berlin unter Null.

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