Hertha BSCDie Not wird existenziell

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Kevin-Prince Boateng steht konsterniert auf dem Rasen des Olympiastadions, Marc Oliver Kempf, rechts daneben, findet später deutliche Worte.
Kevin-Prince Boateng steht konsterniert auf dem Rasen des Olympiastadions, Marc Oliver Kempf, rechts daneben, findet später deutliche Worte. (Foto: Sebastian Räppold/Matthias Koch/Imago)

Häme, giftige Selbstkritik, keine Punkte: Nach dem 1:4 gegen die Frankfurter Eintracht beträgt der Vorsprung der seit Dezember sieglosen Berliner auf einen Abstiegsplatz nur noch einen Zähler. Trainer Korkut gehen die Argumente aus.

Von Javier Cáceres, Berlin

Hertha BSC schlafwandelt dem Abstieg entgegen. Und insofern war es wohl die akkurate Wortwahl, die Arne Friedrich, der Sportdirektor des Berliner Bundesligisten wählte, als er zu einem durchaus deutlichen, verbalen Weckruf ansetzte.

"Wir müssen jetzt endlich mal den Arsch hochkriegen, das muss man ganz klar sagen", sagte der frühere Nationalspieler. Zum Zeitpunkt, da er das sagte, durfte oder konnte er noch Hoffnung haben, dass die Hertha ihr Heimspiel gegen die SG Eintracht Frankfurt dreht. Es war bei Halbzeit, die Gäste führten nicht gerade uneinholbar (1:0), doch zehn Minuten nach Wiederanpfiff war jede Illusion zerstört: Die Eintracht erhöhte erst auf 2:0 (48.), dann auf 3:0 (56.). Ach ja, es gab noch einen kurzen Moment der Begeisterung: Davie Selke traf, was erstaunlich genug war, durch einen Volleyschoss zum 1:3 (61.), der auch noch wunderschön anzusehen war. Marke Tor des Monats.

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Doch das war am Ende völlig irrelevant. Denn kaum 120 Sekunden später hatte die Eintracht den 4:1-Endstand erzielt. Frankfurt fuhr damit nach drei sieg- und torlosen Spielen in Serie den ersten Dreier ein. "Mit 4:1 in Berlin zu gewinnen ist eine tolle Geschichte", sagte Eintracht-Trainer Oliver Glasner. Die Hertha dagegen? Bleibt im laufenden Kalenderjahr weiter ohne Sieg. Und sie ist nicht nur nach Zahlen das schlechteste Rückrundenteam. Sie spielt auch so.

"Ich weiß nicht, ob manche nicht verstanden haben, dass wir im Abstiegskampf sind", sagt Herthas Winterzugang Kempf

Es gab am Samstag so gut wie nichts, woran sich die Berliner noch festhalten konnten, und das war schon ein Unterschied zum letzten Heimdebakel, das 1:6 gegen RB Leipzig, das nur zwei Wochen zurücklag. Hier und da gab es mal den einen oder anderen Abschluss, aber nicht mal die Frisur von Eintracht Torwart Kevin Trapp war jemals ernsthaft in Gefahr. Und auch wenn das nackte Ergebnis etwas anderes suggeriert: Die Eintracht war zwar eindeutig besser, aber nicht überragend gut. Das reichte gegen eine Hertha, die alle Symptome einer Mannschaft aufweist, die sich im sogenannten freien Fall befindet. In voller Mannschaftsstärke, immerhin. Am Samstag konnte Trainer Tayfun Korkut zum ersten Mal seit Beginn seiner Amtszeit im November 2021 auf nahezu den ganzen Kader zurückgreifen. Sogar Kevin-Prince Boateng war fit genug, ein gutes halbes Stündchen mitzuspielen.

Die Frisur sitzt, das Ergebnis stimmt: Frankfurts Torwart Kevin Trapp hat einen erfolgreichen Arbeitstag hinter sich.
Die Frisur sitzt, das Ergebnis stimmt: Frankfurts Torwart Kevin Trapp hat einen erfolgreichen Arbeitstag hinter sich. (Foto: O.Behrendt/Contrast/Imago)

Immer wieder hatte Korkut davon gesprochen, dass es erst einmal darum gehe, die einfachen Dinge gut zu machen, die sogenannten Basics abzurufen. Doch das misslang in so umfassender Weise, dass sich Winterzugang Marc Kempf mit bemerkenswert deutlichen Einlassungen zum Notar des Scheiterns aufschwang. "Ich weiß nicht, ob manche nicht verstanden haben, dass wir im Abstiegskampf sind", sagte Kempf. Und bekam sich gar nicht mehr ein.

"Die erste Halbzeit hat mir überhaupt nicht gefallen, weil wir einfach nur Statisten waren", sagte er, und lehnte jede Debatte über richtige und falsche Taktik vehement ab. "Was heißt Taktik? Jede Taktik der Welt ist scheißegal, wenn man nicht die (richtige) Einstellung an den Tag legt, wenn man nicht läuft, wenn man nicht macht, wenn man nicht tut." Seine Enttäuschung über den Umstand, dass er nun seit Januar in Berlin ist und immer noch keinen Sieg kosten durfte, kleidete er in einen Satz von überragender Schönheit. "Mich kotzt das übertrieben an."

Bei den Kollegen liegt der letzte Sieg noch länger zurück, was seiner Ansicht nach Auswirkungen auf die Stimmung haben sollte. Oder müsste: "Da muss jeder angekotzt genug sein, und sich einfach mal den Arsch aufreißen", sprich, "nicht einfach nur Larifari rumlaufen und sich vier-eins abschießen lassen." Die Tore für die Eintracht, das nur am Rande, gingen auf das Konto von Ansgar Knauff (17. Minute), Tuta (48.), Jesper Lindström (56.) und Rafael Borré (63.). Sie hatten für die Hertha verheerende Konsequenzen: Da am späten Samtsagabend der Vorletzte VfB Stuttgart mit 3:2 gegen Borussia Mönchengladbach gewann, konnte die Hertha nicht mal den Relegationsplatz konsolidieren. Der Vorsprung des seit 2019 mit den 374 Millionen Euro von Investor Lars Windhorst aufgepäppelten Klub auf die Schwaben schmolz auf einen einzigen Punkt.

"Ich bin immer noch überzeugt, nicht nur von meiner Arbeit, sondern auch von der Mannschaft", sagt Hertha-Trainer Korkut

In Anbetracht der Gesamtlage kam es auf den Rängen des Olympiastadions zum offenen Liebesentzug. Ausgerechnet in der Ostkurve des Olympiastadions, wo die treuesten Fans der Hertha stehen, schwoll ein Chor an, der verletzend wirken musste: "Oh, wie ist das schön...", sangen die Berliner Fans, als das Spiel gegen die Eintracht noch lief. Es blieb nicht bei der Häme. Zum einen, weil den Hertha-Spielern Getränkebecher entgegenflogen, als sie sich nach Dienstschluss zaghaft der Kurve näherten. Zum anderen, weil es auch zu "Korkut-Raus"-Rufen kam.

In der Tat gehen dem Trainer die Argumente aus. Seine Analysen sind in der Regel von Sachlichkeit getragen; dass er am Samstag bekannte, "nullkommanull zufrieden", "enttäuscht" und "sauer" zu sein, war für seinen Duktus schon ein verbaler Ausbruch. In zwölf Spielen hat er bislang aber nur neun Punkte gesammelt, vor allem aber war die Leistung gegen die Eintracht ein spielerischer Rückschritt von atemberaubender Länge.

Die Frage, ob er sich imstande sehe, mit der Hertha die Kurve zu kriegen, beantwortete Korkut mit großer Eindeutigkeit: "Ich bin immer noch überzeugt, nicht nur von meiner Arbeit, sondern auch von der Mannschaft", sagte er. Die jüngste, unmissverständliche Rückendeckung von Manager Fredi Bobic war am Sonntag der vergangenen Woche. Am Samstag mied Bobic die Mikrofone der TV-Anstalten. Was das bedeutet, wird sich erst noch erweisen müssen.

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