Süddeutsche Zeitung

Herbstmeister der Bundesliga:Leipzig hat eine selbstverliebte Branche aufgerüttelt

Erstmals seit zehn Jahren stehen nicht Bayern oder Dortmund in der Weihnachtstabelle vorne: Ein strittiges Kunstprodukt bleibt RB aber weiterhin.

Kommentar von Klaus Hoeltzenbein

Kurz zurück in die Minuten vor dem Anpfiff des letzten Hinrunden-Spieltags, der eine Zäsur darstellt. Kann doch die Bundesliga im 57. Jahr ihres Bestehens in RB Leipzig einen neuen Titelträger präsentieren. Für den gibt es zwar jetzt nicht die ganze Schale, sondern allenfalls eine halbe - und die gibt es auch nur in der Imagination, nicht in der Realität. Denn der Titel Herbstmeister hat sich zwar im Volksmund eingenistet, aber er bleibt auch weiterhin höchst inoffiziell.

Kurz vor dem Anpfiff zum 3:1 gegen den FC Augsburg also hatte Trainer Julian Nagelsmann seiner Mannschaft eine ziemlich lange Mängelliste ausgestellt. Man habe weiterhin "den einen oder anderen Entwicklungsschritt vor sich", sagte er in alle Mikrofone. Man habe "noch Entwicklungspotenzial", kurzum: "Wir wissen, dass wir noch nicht fertig sind." Es klang wie eine interne Warnung, die nach außen getragen werden sollte: Egal, was hier und heute passiert, alle harten Ziele sind noch fern.

Und das stimmt ja auch, die Hälfte der Strecke zur möglichen Meisterschaft haben die Leipziger erst absolviert, und jeder weiß, was passieren kann, wenn man den FC Bayern nur vier Punkte zurück im Nacken hat. Zunächst aber haben die Roten Bullen, wie sie sich nennen, ein Etappenziel erreicht, an dem sie durchschnaufen können. An dieser Stelle sagt die bloße Statistik mehr als tausend Worte: Erstmals seit zehn Jahren stehen an Weihnachten nicht Münchner oder Dortmunder an der Tabellenspitze. Deshalb eine Zwischenfrage: Wer war der letzte Meister, der nicht Rot oder Gelb als Trikotfarbe trug? Antwort: Der VfL Wolfsburg, 2009, Trainer war ein gewisser Felix Magath, den die Spieler Quälix nannten, weil er Medizinbälle über Steilwände oder auf Gipfel schleppen ließ.

Seit Magaths Abschied hat sich viel verändert. Zum Beispiel wurde im selben Jahr, in dem der VfL Wolfsburg in der Bundesliga dominierte, der RasenBallsport Leipzig e.V. gegründet. Ein Startup, das im Schnelldurchlauf nach oben strebte. Dazu bedienten sich die Initiatoren eines Tricks, wie man ihn von der Börse kennt. Man erwirbt eine dort notierte Firma als Hülle - und pumpt Millionen und Ambitionen hinein. Die Red Bull GmbH aus Salzburg, Muttergesellschaft des Leipziger Projekts, übernahm zur Saison 2009/10 die Lizenz überhaupt erst vom SSV Markranstädt in der fünftklassigen Oberliga Nordost - und raste dann quasi als Meister durch alle Klassen. Ein strittiges Kunstprodukt bleibt RB weiterhin, ein Startup ist es immer noch. Zehn Jahre sind viel zu kurz, um an diesem Image alles zu ändern. Aber es ist auch ein Projekt, bei dem so mancher Traditionalist anerkennen kann, dass es eine hierzulande selbstverliebte Branche aufgerüttelt und innovativ herausfordert hat.

Es bedarf dieses Ausflugs in die jüngere Geschichte, um zu verstehen, was da am Samstag besiegelt wurde: Aus dem Rot-Gelben Dualismus des letzten Jahrzehnts ist ein Dreikampf geworden. International untermauert, denn der FC Bayern, Dortmund und der Emporkömmling aus Sachsen haben sich als Trio fürs Achtelfinale der Champions League qualifiziert. Es ist heute viel wahrscheinlicher, dass sich das Leipziger Modell oben etabliert, als dass es abstürzt. Hat doch der 32 Jahre junge Trainer Nagelsmann mit eigenen Ideen fortgesetzt, was ihm Ralf Rangnick, 61, der strenge Inspirator, im Sommer 2019 übergeben hat. Ein zentrales Merkmal der neuen Leipziger Schule ist zum Beispiel das globale Scouting: RB kauft nicht nur Personal, das teuer ist, sondern vornehmlich Personal, von dem vermutet wird, dass es zusammenpasst. Jung muss es sein, zudem über ein Lungenvolumen verfügen, das den verordneten Powerfußball aushält - Bullen eben.

Timo Werner als Symbolspieler des Gipfelsturms

Natürlich hat Nagelsmann völlig recht, wenn er sagt: Wir sind längst nicht fertig! Und die Traditionalisten geben sich auch noch nicht geschlagen. Gerade der Serienmeister FC Bayern nicht, nach einer für seine Verhältnisse schwachen Hinrunde mitsamt Trainerwechsel von Niko Kovac zu Hansi Flick. Und am vorigen Dienstag erst waren fast alle Leipziger Schwächen von den Dortmundern enttarnt worden. Allerdings nur in der ersten Halbzeit, in der zweiten übertrieb es Borussia mit der Gastfreundschaft, sorgte mit Eigenfehlern dafür, dass aus einem 2:0 ein 3:3 werden konnte.

Dieses Spitzenspiel darf deshalb als Spiegelbild der kompletten Hinrunde gelten. Es war kurzweilig und fahrig. Konfusion aber nutzt niemand so gnadenlos aus wie Nationalstürmer Timo Werner, die Symbolfigur des Leipziger Gipfelsturms. Ein konsequenter Fehlerbestrafer, der mit 18 Saisontoren viel dazu beitrug, dass Leipzig nur daheim gegen Schalke (1:3) und auswärts in Freiburg (1:2) verlor. Es ist deshalb keine Schmälerung der Leipziger Leistung, aber auch kein Qualitätssiegel dieser spannenden Hinrunde, wenn das Fazit lauten muss: Der, der die wenigsten Fehler gemacht hat, überwintert in der Weihnachtstabelle oben.

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SZ vom 22.12.2019/tbr
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