Süddeutsche Zeitung

Bundesliga: Hannover 96:Aus den Tiefen der Einkaufstüte

Hannovers Mittelfeldstürmer Jan Schlaudraff hat einst beim FC Bayern seinen Ruf ruiniert - jetzt bietet sich ihm gegen seinen ehemaligen Klub die Gelegenheit zur Rehabilitation. Dafür schiebt er nach dem Training sogar ungewöhnliche Extraschichten.

Boris Herrmann

Man hört schon von Weitem, wenn bei Hannover 96 Feierabend ist. Um die zwanzig Stollenschuh-Paare klacken dann den asphaltierten Spazierweg entlang, der vom Trainingsplatz zurück zu den Kabinen im Stadion führt. In diese lebensechte Audiokunst hinein mischen sich noch die Fragen von neugierigen Radioreportern und die Liebesgrüße von aufgeregten Autogrammjägerinnen. Hannover lernt gerade, wie es ist, berühmt zu werden. Und erst wenn sich der dazugehörige Soundtrack allmählich auf dem Stadionparkplatz verliert, wenn wieder Stille einkehrt am Ufer der schönen Leine, erst dann fällt auf, dass auf dem Trainingsplatz zwei Männer und zwölf Bälle zurück geblieben sind. Jan Schlaudraff übt noch ein paar Freistöße.

Von den ersten fünf Versuchen zappeln drei im Netz, wobei die Leistung des Torhüters nicht unerwähnt bleiben darf. Er fliegt nicht gut, lässt sich leicht verladen, und wenn er doch mal einen Ball erwischt, pritscht er ihn unkontrolliert in den Fünfmeterraum. Wenn dieser Torhüter nicht Mirko Slomka hieße, hätte es für Hannovers kommenden Gegner, den FC Bayern, an dieser Stelle durchaus Ansatzpunkte gegeben. Slomka aber wird am Samstagnachmittag eher nicht im Tor stehen. Vermutlich wird er sich da wieder auf seine Stärken in der Coaching-Zone konzentrieren.

Ehrgeizige Männer, zu denen der Trainer Slomka ganz gewiss zählt, lassen allerdings auch vermeintliche Schwächen nicht gerne auf sich sitzen. Nach seiner Niederlage im Freistoß-Spiel, setzt er auf zwei zentrale Verteidigungsstrategien. Erstens: "Ich habe auch einen Ball gehalten." Zweitens: "Jeder weiß, dass der Jan ein sehr guter Schütze ist." Zumindest die Bayern sollten das wissen, die gerade zwei Spiele in Serie nach Standardsituationen verloren zu haben, und denen auch nicht entgangen sein dürfte, dass Hannover 96 zuletzt wieder nach einem späten Freistoß drei Punkte eingesammelt hat. "Jede Standardsituation kann ein Spiel entscheiden", sagt der grundsätzlich nicht für seinen Übereifer bekannte Schlaudraff nach seiner Sonderschicht. Man kann sich dem Eindruck nicht erwehren, dass da jemand seine Chance wittert, es dem Schicksal mal wieder so richtig heimzuzahlen.

Es wäre in der Tat eine besondere Pointe, wenn Jan Schlaudraff ein Spiel entscheiden würde, in dem es vor allem für den FC Bayern um viel mehr als um Punkte geht. Er ist nicht der einzige Fußballer, der in München seinen Ruf ruinierte. Aber nur wenigen ist das so schnell und so nachhaltig gelungen. Als er im Januar 2007 unterzeichnete, war er ein umworbener Nationalspieler. Als er die Stadt im Sommer 2008 wieder verließ, ist das kaum noch jemandem aufgefallen.

Schlaudraff, 27, ist ein Pfarrersohn aus dem Westerwald. Abgesehen von seinem mönchhaften Haarkranz spielt Religion trotzdem keine größere Rolle in seinem Leben, behauptet er zumindest. Wenn man ihn aber auffordert, sich an seine Zeit bei Bayern zu erinnern, dann legt er den Kopf ganz vorsichtig in seine linke Hand, so, als würde er sich gleich selber die Beichte abnehmen. "Die Vorzeichen waren natürlich extrem schlecht damals", sagt er nach kurzer Einkehr.

Es ging schon damit los, dass er in der Winterpause auf bewährte Weise zwangsverpflichtet wurde, nachdem er die Bayern im Trikot von Alemannia Aachen aus dem Pokal geschossen hatte. Bis zum ersten Arbeitstag an der Säbener Straße hatte sein neuer Klub die Offensive aber auch noch mit Ribery, Toni und Klose verstärkt, und Jan Schlaudraff verschwand ganz unten in der Einkaufstüte. Er war praktisch schon überflüssig, bevor er überhaupt anfing. Ein Bandscheibenvorfall, der ihn ein halbes Jahr außer Kraft setzte, machte die Lage nicht besser. Am Ende ging es nur darum, ob er seinem Team von der Bank oder von der Tribüne aus zusah. Den Ligapokal gewann er vom Krankenbett aus. Die Meisterschaft und den Pokalsieg hat er immerhin live im Stadion verfolgt. Schlaudraff hat mit Bayern drei Titel geholt und weiß bis heute nicht so recht, ob er darauf stolz sein darf - er hat ja insgesamt nur 150 Minuten lang mitgewirkt. Was ist für ihn aus dieser Zeit geblieben? Die Schuhe mit der Aufschrift "DFB-Pokalfinale 2008" und "dass ich die letzte Saison von Oliver Kahn miterleben durfte."

Drei Jahre, drei Leistenoperationen und so manchen verfrühten Nachruf später könnte dieser Schlaudraff nun nachhaltig zur Klärung der Frage beitragen, ob wir uns in der letzten Saison des Bayern-Trainers Louis van Gaal befinden. Weil Hannovers gefürchtetster Angreifer Didier Ya Konan weiterhin verletzt ausfällt, wird der Mittelfeldstürmer Schlaudraff wohl noch ein Stück offensiver als sonst agieren. Diesmal spielt nicht Bayern mit seinem Schicksal, sondern er mit dem Schicksal der Bayern. Die Vorzeichen haben sich verändert.

Schlaudraffs Karriere, die bereits 2002 bei Mönchengladbach begann und ihm bislang trotzdem nur 90 Erstliga-Einsätze bescherte, ist eine Aneinanderkettung von Rückschlägen. Seine Talent ist unbestritten, aber immer, wenn er sich heran gekämpft hatte, stand ihm wieder etwas Neues im Weg - die nächste Verletzung, Luca Toni, der Eindruck, er sei zu bequem. Schlaudraff sagt: "Mag sein, dass ich eine besondere Art habe. Wenn es läuft, wird mir das als Spielfreude ausgelegt. Und wenn es nicht so läuft, heißt es: Der strengt sich nicht an."

Das Problem des FC Bayern ist nun: Im Moment läuft es besser denn je bei Jan Schlaudraff.

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SZ vom 05.03.2011/jüst/jbe
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