Standardsituationen:Unbeliebt, aber nützlich

RB Leipzig v FC Schalke 04 - Bundesliga

Standardisiert in Szene gesetzt: Salif Sane.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Standards gelten anspruchsvollen Betrachtern als Waffe der kleinen Leute, doch ein neuer Trend in der Bundesliga zeigt: Ihre Wirkung ist groß.

Kommentar von Philipp Selldorf

Die Bedeutung von Einwürfen im Fußball werde unterschätzt, hat Thomas Grönnemark der Profibranche in einem Gespräch mit der BBC gesagt. Dass ausgerechnet Herr Grönnemark diese Feststellung getätigt hat, ist nicht verwunderlich, denn der Däne verdingt sich bei verschiedenen Fußballklubs berufsmäßig als Einwurf-Trainer. Er beklagt also im eigenen Interesse die Ignoranz der Gesellschaft, ähnlich dem Betreiber eines Hundefrisiersalons, wenn dieser kritisiert, dass die eminente Wichtigkeit seines Gewerbes verkannt werde. Grönnemark, den Jürgen Klopp voriges Jahr in den Dienst des FC Liverpool aufnahm, kann angeblich aber zählbare Erfolge vorweisen. Mehrere dänische Teams sollen dank seiner Hilfe durch Einwürfe zu Toren gelangt sein, in Liverpool fällt der Verteidiger Joe Gomez durch scharfe und weite Einwürfe auf.

An die Kunst von Rory Delap reichte er damit aber nicht heran. Der ehemalige irische Nationalspieler war in der Premier League für seine enormen Einwürfe bekannt. Wenn er sich an der Seitenlinie bereitmachte, versammelten sich sämtliche Spieler im Strafraum, viele Kopfballtore fielen nach seinen Einwürfen, die wie Flanken hereinzischten. Luiz Felipe Scolari, damals Trainer des FC Chelsea, kommentierte Delaps ballistisches Handwerk so: "Das ist vielleicht nicht schön, aber wenn du dadurch Tore erzielst, ist es schöner, als wenn du keine Tore machst."

Diese Sentenz führt mitten hinein in eine Geschmacksdebatte, die es gibt, seitdem es Fußball gibt. Sind Tore nach sogenannten Standardsituationen moralisch und ästhetisch weniger wert als Tore, die aus dem Spiel vollendet werden? Standards gelten anspruchsvollen Betrachtern als Waffe der kleinen Leute, die mangels Spielvermögen aufs Schema F zurückgreifen müssen, zum Beispiel das Schema Ecke-Kopfball-Tor. Auch der Bundestrainer Jogi Löw hat die Möglichkeiten, die Ecken und Freistöße bieten, jahrelang konsequent ignoriert. Immer wenn er danach gefragt wurde, hat er den Trick des Kneipenwirts angewandt, der seinen Gästen täglich Lokalrunden suggeriert - mit einem Schild, auf dem "Morgen Freibier" steht. Wäre es nach Löw gegangen, hätte auf dem Trainingsplatz der Nationalelf immer ein Schild mit der Aufschrift "Morgen Freistoß- und Eckentraining" gestanden. Bis sich vor der WM 2014 die Fragen so häuften, dass er das Thema an den Assistenten Hansi Flick delegierte. Mit Erfolg. Über das Freistoß-Kopfball-Tor, das Mats Hummels im Viertelfinale zum 1:0 gegen Frankreich erzielte, soll sich auch Löw gefreut haben.

Ein paar Überstunden wären vielleicht ganz nützlich

Nun gab es am vorigen Spieltag in der Bundesliga ein Standardtor zu bestaunen, das Leipzigs Trainer Julian Nagelsmann als "Weltklasse" adelte, obgleich es vom Gegner bejubelt wurde: Schalkes Mascarell hatte am ersten Pfosten per Kopf Oczipkas Eckstoß verlängert, Sané vollendete per Kopf am zweiten Pfosten. Was Nagelsmann faszinierte: dass der Ablauf bis ins Detail einstudiert war. Am nächsten Tag kam Bremen in Dortmund nach gleichem Muster zum Ausgleich: Kopfballverlängerung Sargent, Kopfball Friedl, Tor. Eigentlich sollte Osako verlängern und Moisander das Tor machen, doch weil sie beide verletzt sind, übernahmen Sargent und Friedl. Funktionierte.

Darüber könnte man hier und dort mal nachdenken. Bayer Leverkusen kam neulich gegen Hoffenheim auf 19 Eckstöße - die Partie endete 0:0. Oder der 1. FC Köln: In drei Spielen hintereinander hat er kein Tor mehr geschossen, am Sonntag 0:4 gegen Hertha verloren. Aber am Montag hat der Trainer Achim Beierlorzer seinen Spielern bis Mittwochnachmittag freigegeben. Ein paar Überstunden wären vielleicht auch ganz nützlich gewesen: zum Training von Freistößen und Ecken - und der allseits unterschätzten Einwürfe.

Zur SZ-Startseite
Bundesliga - RB Leipzig v Schalke 04

Schalke besiegt Leipzig
:Phasenweise überragend

Schalke gewinnt in Leipzig. "Für solche Nachmittage wurde das Wort Stolz erfunden", sagt Trainer David Wagner und versucht erfolglos, die Euphorie zu dämpfen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: