Hübsch überspitzt ließe sich nach diesem Fußball-Samstag formulieren: Schon wieder ein beleidigter Auftritt vom Trainertalent! Das wäre eher unfair, klar, aber in diesem Satz stecken gleich mehrere Debatten, denen sich Julian Nagelsmann beim FC Bayern aktuell stellen muss. Und er muss es nun wohl neuerlich tun -nach dieser Nachspielzeit in Dortmund, in der Deutschlands Serienmeister mal wieder in dieser bisher seltsamen FC-Bayern-Saison einen Sieg vergab.
Zur Erinnerung: Kurz vor der Länderspielpause, nach der Niederlage in Augsburg, saß Nagelsmann, 35, schon einmal missmutig in der Pressekonferenz. Die Bayern hatten überraschend 0:1 verloren und damit zum vierten Mal hintereinander nicht gewonnen. In Erinnerung blieb ein bockiger Satz von Nagelsmann ("Ist doch egal, was ich jetzt antworte") - und die Ankündigung, er werde "alles" überdenken, was sein Trainerdasein in München betrifft.
Nach dem nicht minder ärgerlichen 2:2 beim BVB, mit dem tatsächlich aus Bayern-Sicht höchst ärgerlichen Ausgleich in der 95. Minute durch Anthony Modeste, war Nagelsmanns Laune im Interview beim TV-Sender Sky verständlicherweise wieder bescheiden.
Dortmund gegen Bayern:Wer sorgt fürs späte Fußballfest?
Durch ein Tor in der 95. Minute gelingt dem BVB der Ausgleich gegen den FC Bayern. Anthony Modeste ist nach einem Auf und Ab der Gefühle der Mann des Tages - Bayern-Trainer Nagelsmann überrascht mit seiner Spielanalyse.
Intensiv erwähnte er, das Spiel wäre wohl anders verlaufen, hätte Dortmunds Jude Bellingham nach seinem Fuß-gegen-Kopf-Treffer gegen Alphonso Davies, der bei diesem eine Schädelprellung zur Folge hatte, schon vor der Pause die rote Karte gesehen, oder zumindest Gelb-Rot. Bellingham treffe Davies "volle Kanne im Gesicht", betonte Nagelsmann, und in der Sommerpause seien alle Bundesligisten von den Schiedsrichtern geschult worden: "Da haben sie uns erzählt, dass ein Tritt ins Gesicht glatt Rot ist", sagte Nagelsmann. Und dann kam er auf die Sache mit dem "Trainertalent" zu sprechen.
Diesen Begriff, der bei spitzer Deutung wie ein gifthaltiges Kompliment klingt, hatte der frühere Bayern-Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge diese Woche in einem Radio-Interview bei Bayern 1 öffentlich platziert, was natürlich implizieren sollte: Ein Trainertalent ist er schon, der Nagelsmann, jung und frisch und mit tollen Ideen. Aber ob er auch ein großer Trainer wird, das müsse er noch zeigen. "Das macht ja nicht nur er", sagte nun Nagelsmann, als er Rummenigges Formulierung kommentieren sollte, "zu viele" würden ihn, Nagelsmann, so bezeichnen. Und dann bettete er das Reizwort in ein eigenes Resümee ein: "Ich bin ein Trainertalent, da bin ich auch stolz drauf. Ich gebe jeden Tag mein Bestes, den Rest bewerten andere."
Fünf Wechsel hatte sich Nagelsmann in Dortmund gegönnt, aber jeder einzelne war erklärbar
Damit war man mittendrin in Nagelsmanns Dilemma nach diesem 2:2, das sich in die Reihe jener Spiele dieser Saison einfügte, in denen die Bayern niemals hätten Punkte liegen lassen dürfen. Nach den Münchner Toren von Leon Goretzka (33.) und Leroy Sané (53.) wirkte Dortmund voll und ganz erledigt, Nagelsmanns Team hatte mehrere Möglichkeiten, das stabile 2:0 in ein noch komfortableres 3:0 zu verwandeln. Normalerweise täten die Bayern dies ja dann in solchen Spielen, sagte später BVB-Coach Edin Terzic. Und auch Nagelsmann unterstrich: Wenn seine Elf das dritte Tor mache, wäre "das Spiel erledigt" gewesen.
Bayern in der Einzelkritik:Die Abwehr verliert die Orientierung
Die Bayern-Verteidigung beginnt spät zu wackeln, Serge Gnabry ist weiterhin in der Formkrise - und Jamal Musiala ist auch in Dortmund Bayerns entscheidender Offensivspieler. Der FC Bayern in der Einzelkritik.
Doch die Bayern vergaben ihre Chancen, wie das in dieser Saison schon oft geschah. Zudem ließen sie sich in der Schlussphase vom BVB in die Defensive drängen und boten dort entscheidende Räume an - ein Szenario, in dem sich klassischerweise auch die Frage nach der Zuständigkeit des Trainers stellt.
Eines offensichtlichen Fehlers hatte sich Nagelsmann in Dortmund nicht schuldig gemacht, obwohl ein Hauptgrund für das späte BVB-Aufbäumen war, dass die Münchner in der Schlussphase mit einer Viererkette in völlig neuer Formation agieren mussten: Dayot Upamecano und Benjamin Pavard in der Mitte, links Josip Stanisic, rechts Noussair Mazraoui.
Fünf Wechsel hatte sich Nagelsmann gegönnt, was ein Knackpunkt war, doch jeder einzelne davon war letztlich erklärbar: Zur Halbzeit musste er Davies runternehmen, weil der Linksverteidiger nach Bellinghams Fußbehandlung mit Verdacht auf Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht wurde, für Davies kam Josip Stanisic. Auch die Auswechslung von Marcel Sabitzer als Absicherung vor der Abwehr ergab Sinn, da Sabitzer seit Spielminute zwei Gelb-belastet war und der Corona-genesene Joshua Kimmich auf seinen Einsatz wartete.
Eine besondere Herausforderung für die Viererkette war dann, dass auch der Niederländer Matthijs de Ligt nach einer Stunde angeschlagen vom Platz musste. Lucas Hernández fehlte bereits, er könne sich keinen weiteren verletzten Innenverteidiger leisten, begründete Nagelsmann später die Vorsichtsmaßnahme, de Ligt vom Feld zu nehmen. Drei nachvollziehbare Wechsel in der Abwehr also, die jedoch zu dem Ergebnis führten, dass die Bayern mit einer gänzlich unerprobten Vierer-Formation in der Abwehr und erkennbar verwundbarer in die letzte halbe Stunde gingen.
Nagelsmann kritisiert den jungen Stanisic, ohne den Abwehrspieler beim Namen zu nennen
Zur Wahrheit gehört auch, dass beide Gegentore leicht hätten verhindert werden können. Im Zentrum haben die Bayern gerade ein Problem damit, die Kompaktheit früherer Jahre aufs Feld zu bringen. Beim Dortmunder 1:2 (74.) durch Youssoufa Moukoko habe sein Team das Verteidigen komplett vergessen, urteilte Nagelsmann ("eine ungefährliche Situation"). Beteiligt an den Versäumnissen waren bereits die Bayern-Angreifer, die Nico Schlotterbeck bei der Spieleröffnung zu spät störten, zudem die zentralen Mittelfeldspieler und beide Innenverteidiger.
Beim 2:2 sei dann nicht etwa Modestes Freiheit beim Kopfball entscheidend gewesen, meinte Nagelsmann, sondern die Situation davor, als Torvorbereiter Schlotterbeck diesmal im Bayern-Strafraum die Zeit bekam, den Ball nahe der Auslinie akrobatisch anzunehmen und dann auch noch seelenruhig zu gucken, wo sich einer freilaufen könnte - und dabei fand er Modeste.
"Wenn wir auf Schlotterbeck mehr Druck machen, passiert das Tor nicht", monierte Nagelsmann. Er nahm den Namen des jungen Stanisic nicht in den Mund, laut Zuteilung wäre es jedoch dessen Aufgabe gewesen, Schlotterbeck am Flanken zu hindern.
Auch wenn sein Coaching am Samstag nachvollziehbar war, muss Nagelsmann den verpassten Sieg im Topspiel und den vergebenen Drei-Punkte-Vorsprung auf den vielleicht potentesten Rivalen im Titelkampf verantworten. Vier Siege, vier Unentschieden und eine Niederlage nach neun Liga-Spielen - das geht gemäß Münchner Ansprüchen besser. Vorstandschef Oliver Kahn hatte sich beim Ausgleich auf der Tribüne fürchterlich aufgeregt, später sagte er, er müsse sich "lange zurückerinnern, um mich an so eine Saison erinnern zu können, wo wir so viele Torchancen haben und sie nicht machen". Und: "Wir müssen jetzt schnell in die Puschen kommen."
Ob die nächsten Tage wieder medial anstrengend werden würden, wurde Julian Nagelsmann noch im ZDF gefragt. Seine Antwort, so knapp wie eben nötig: "Vermutlich schon."