Früher, als die Reflexe des FC Bayern noch die alten waren, wäre das Lasso viel früher geflogen. Nämlich im Winter, wenn die großen Transfers verabredet werden. Nicht erst im Frühsommer, als es zu spät war. Es zählte ja lange zu den verlässlichen Verhaltensmustern in der Bundesliga, dass jeder, der im direkten Duell mit den Münchnern verhaltensauffällig wurde, in der nächsten Saison dort landete.
Die Liste der von der Haupttribüne gecasteten Profis erscheint unendlich lang: Von Alain Sutter über Roy Makaay, von der Leverkusener Erfolgs-Generation Lúcio, Ballack, Zé Roberto bis hin zu Lukas Podolski - stets flog zielsicher das Lasso, mit dem Dreifach-Effekt: Bayern sollte gestärkt, der Gegner geschwächt, ein Sonderstatus in der Bundesliga zementiert werden.
Dieses Mal aber war der Wurf ausgeblieben. Auf den Brasilianer Diego hat die Führungsriege des FC Bayern monatelang nicht gezielt. Dabei hatte auch er während der Oktoberfest-Tage 2008, als Diegos Bremer die neuformierte Klinsmann-Elf mit 5:2 demütigten, der Münchner Haupttribüne direkt vorgeführt, dass er eine Elf viel besser zu lenken versteht als sein damaliger Widerpart Bastian Schweinsteiger. Diego und Ribéry? Das passt nicht zusammen, hieß es aus der Lasso-Zentrale an der Säbener Straße, obwohl der Brasilianer dezent signalisiert hatte, dass er einem Transfer nach München nicht abgeneigt sei.
Disziplinarisch zu problematisch, hieß es, als Diego mit einem Delmenhorster Schlagersternchen in den bunten Blättern knutschte und bei einer weinseligen Autofahrt erwischt wurde. Als im Frühsommer in München ein Sinneswandel einsetzte (Ribéry und Diego? Geht vielleicht doch!), es gar zu Kontaktgesprächen kam, war es spät. Djair da Cunha, Vater und Berater von Diego, pokerte zwar, schien sich aber mit Juventus Turin längst handelseinig zu sein. "Wir ziehen uns aus der Veranstaltung zurück, denn wir sind ein seriöser Klub", sagte Bayern-Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge. Im Mai.
Aus moralisch-ethischen Gründen, so soll jetzt wohl die offizielle Lesart lauten, haben die Bayern auf das Experiment verzichtet, die beiden herausragenden Mittelfeld-Offensiv-Darsteller der Liga, Ribéry und Diego, in eine Elf zusammenzupacken. Man darf bei diesem Monopoly mit den Stars ja durchaus zu diesem Ergebnis kommen - wo aber ist dann die bayerische, die bessere Lösung?
Diego gilt jetzt als Hoffnungsträger, der der heruntergewirtschafteten Serie A frischen Glanz verleihen soll, während die Münchner genau auf seiner Position ihr zentrales Problem haben: In Mainz begann dort, wo bei einer Fußball-Elf normalerweise das Großhirn sitzt, also direkt hinter den Spitzen, Miroslav Klose - von seiner Ausbildung her ein ausgewiesener Mittelstürmer. Er war im dritten Spiel bereits der dritte Kandidat für die Schaltzentrale: Beim 1:1 in Hoffenheim begann Nachwuchskraft Baumjohann, beim 1:1 gegen Bremen der Argentinier Sosa, zwischenzeitlich sind Schweinsteiger, Altintop oder Müller dort zu sehen gewesen, und eigentlich wird diese Position im System des Louis van Gaal seit Wochen für Franck Ribéry freigehalten. Doch der Franzose will sie nicht. Was aber soll aus einer Mannschaft werden, die nicht weiß, wie ihre Achse steht?
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Bundesliga: FC Bayern:Zeit für die Krise
"Die Mannschaft braucht Zeit", hatte Bayerns Trainer Louis van Gaal vor dem Spiel gegen Mainz gesagt. Ihm war wohl nicht klar, dass sie so viel Zeit braucht. Das Spiel in Bildern.
Zumal die alte Achse geopfert wurde, die in den vergangenen zwei Spielzeiten links außen stand - und die viele Kaderschwächen an anderer Stelle einfach überdribbeln konnte: Ribéry mit seinen Tempoläufen vorneweg, Philipp Lahm dahinter, erweitert oft zum Dreieck mit Zé Roberto. Dieses Trio war an guten Tagen ganz nahe dran an der Weltklasse, übrig geblieben ist davon nahezu nichts. Ribéry zickt zwischen Blessur und Übellaune herum, Lahm will lieber rechts spielen, setzt dort aber noch zu wenige Akzente, und Zé Roberto, 35, wurde unter Verweis aufs Alter der gewünschte Zwei-Jahres-Vertrag verweigert, weshalb er jetzt den HSV vitalisiert.
Nach heutigem Stand wurde der Elf die einzige echte Stärke genommen - und durch nichts ersetzt. Statt einer neuen Machtachse ist derzeit nur eine Trennlinie zu erkennen: Der Angriff - auch wenn bislang nur drei Tore gelangen - ist mit Gomez, Klose, Olic (ein Preis-Leistungs-Schnäppchen, der gelungenste Transfer der Saison), Müller und Luca Toni zumindest ein Versprechen. Dahinter aber wird in diesem Teamkörper alles zur SOS-Problemzone.
Einiges mag noch zu korrigieren sein. Was sich die Münchner Strategen jedoch bei der Konzeption ihrer Defensive 2009 gedacht haben, wird ihr Geheimnis bleiben. Es heißt, van Gaal habe beim Videostudium erkannt, dass der langjährige Abwehrchef Lúcio ein Unruheherd sei. Die Münchner stemmten sich dieser Einschätzung nicht entgegen, auch ihre interne Analyse hatte ergeben, dass zuletzt alle Nervosität von Lúcio ausgegangen sei, welcher die anderen infiziert habe wie bei einer Epidemie. Nur: Welches Potential sieht dann José Mourinho in Lúcio? Was hat den Trainer von Inter Mailand veranlasst, diesen Hibbeligen fürs Defensivzentrum des italienischen Meisters anzuwerben? Und was erkennt Carlos Dunga, Brasiliens Nationaltrainer, in ihm, der mit dem 31-Jährigen als Kapitän die WM 2010 gewinnen will?
"Lúcio war unser erfahrenster Abwehrspieler. Ihn zu ersetzen, wird nicht leicht! Ich bin sehr gespannt auf unsere neue Abwehr", so Franz Beckenbauer, als er von diesem Verkauf erfuhr. Das hat er aber nicht in einem Hinterzimmer des Klubs gesagt, sondern via Bild. Beckenbauer ist Klubpräsident, aber verantwortlich zeichnen von Vereinsseite Rummenigge, Uli Hoeneß und dessen Nachfolger Christian Nerlinger. Beckenbauer nimmt nur noch zur Kenntnis, und auf seinen nächsten öffentlichen Schuss via Bild gegen die eigene Hütte wird man wohl nicht sehr lange warten müssen.
Es ist ja ähnlich wie bei Diego: Wenn Lúcio nicht passt, falls seine Hektik die anderen tatsächlich ansteckt - wo ist dann die bayerische Alternative? Seit 2006 haben die Münchner Daniel van Buyten nun schon im eigenen Klub unter Beobachtung, aber dass bei ihm noch viel mehr als bei Lúcio epidemische Ansteckungsgefahr besteht, für diese Erkenntnis hätte es des Mainz-Spiels nicht mehr bedurft; darauf hätten die Verantwortlichen längst selbst kommen können.
Sie ziehen jetzt auch in die Champions League mit folgender Besetzung ein: einem notorisch orientierungsarmen van Buyten, dem in der Vorsaison fahrigen, derzeit verletzten Martin Demichelis, dem sündteuren Brasilien-Talent Breno, dem unerfahrenen Nachwuchsspieler Holger Badstuber sowie dem für einen Innenverteidiger vermutlich zu kleinen Edson Braafheid (1,76 m). Dahinter steht in Michael Rensing jener stets neu in Frage gestellte Oliver-Kahn-Nachfolger, an dem sich die Kritik durch seinen Fehler von Mainz wieder verstärkte. An diesem Personaltableau ist nun nicht mehr viel zu korrigieren. Mit diesem Tableau aber, dazu bedarf es keiner prophetischen Gabe, wird jedes Spiel zum unkalkulierbaren Abenteuer.