Süddeutsche Zeitung

Dortmunds Chancen auf den Titel:Wenn nicht jetzt, dann nie

Die Elf von BVB-Trainer Lucien Favre ist ein seltenes Geschenk, sie hätte die Jahre unter Klopp nachspielen können. Das historische Zeitfenster hat sich aber wieder geschlossen.

Kommentar von Christof Kneer

Wie man weiß, gehen die meisten Sprüche im Fußball auf die Trainer Sepp Herberger und Otto Rehhagel zurück. Manchmal ist die Herkunft von Sprüchen aber auch nicht restlos geklärt, weil zum Beispiel Rehhagel seine umfassende Bildung gerne mal mit Zitaten von Goethe unterlegte, die manchmal aber leider von Schiller waren. Weder Herberger noch Rehhagel noch Goethe oder Schiller haben allerdings gesagt, sie hätten kürzlich "den beschissensten Tatort aller Zeiten" gesehen, keiner von ihnen hat "Füße aus Malta" erfunden, und keiner hat gesagt, er sei, was seine Frisur angehe, Realist. Das war alles Rudi Völler.

Rudi Völler - egal, ob Stürmer, Teamchef oder Funktionär - war in all seinen Rollen immer auch ein großer Poet. Von Völler stammt angeblich auch ein Satz, an den man in dieser Woche wieder denken musste. Der Satz: "Wenn die Bayern mal schwächeln, müssen wir da sein."

Ganz sicher ist Völlers Copyright in diesem Fall nicht, aber im Ausschlussverfahren deutet alles auf seine Urheberschaft hin. Wenn der Mephisto mal schwächelt, muss das Gretchen da sein? Nein, von Goethe ist das nicht, oder, Herr Rehhagel?

Gewiss ist auf jeden Fall, dass dieser Satz eine beachtliche Karriere hingelegt hat. Viele Ligamanager haben ihn in den vergangenen Jahren zitiert, in Dortmund, Leverkusen, Schalke, Wolfsburg oder Gladbach. Der Satz ist zu einer Art Code geworden, die Manager nutzen ihn, wenn sie die Ambitionen ihres Klubs unterstreichen wollen, aber um Himmels Willen ohne dabei eine Erwartungshaltung zu wecken. Der Satz bedeutet: Also, ähm, ja, okay, wir sind also, ähm, so mutig, dass wir den Meistertitel, äh, nehmen würden, wenn die Bayern, also, wenn sie ihn uns freiwillig schenken, aber, ähm, ja, okay, das tun sie wahrscheinlich eh nicht.

Und damit zu Borussia Dortmund.

Nirgendwo wissen sie besser als beim Tabellenzweiten, wie wahr dieser Völler-Satz ist. 2011 und 2012 schwächelten die Bayern, der BVB war da und wurde Meister. Allerdings wissen die Dortmunder seitdem auch, was es dazu braucht: einen besessenen Trainer, der den Bayern mit einem Zähnefletschen begegnet, das vom Regelwerk eher nicht gedeckt ist.

Lucien Favre mit Jürgen Klopp zu vergleichen, ist genau so unfair, wie irgendeinen anderen Trainer mit Klopp zu vergleichen, dennoch steht Favre nun stellvertretend für die Chance, die Dortmund vergeben hat. Unter Favre hätte der BVB 2019/ 2020 die Jahre 2011/2012 nachspielen können. Die Bayern waren von sich und ihrem Umbruch abgelenkt, mit dem Trainer Kovac wurden sie nie warm, der BVB zog in die Winterpause 18/19 sogar mit massivem Vorsprung. Favre macht aus Spielern feinere Fußballer und bestimmt auch bessere Menschen, aber er ist keiner, der sie aufs Siegen abrichtet. Seine BVB-Elf ist ein seltenes Geschenk, seit dem Erwerb von Erling Haaland und Emre Can trägt die Elf zu gleichen Teilen Wucht und Witz in sich, aber nach dem irgendwie so hingenommenen 0:1 gegen den FC Bayern hat sich eines dieser historischen Zeitfenster, in denen man Bayern mal erwischen kann, wieder geschlossen.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die Bayern werden wohl bald die achte Meisterschaft in Serie feiern, und zurzeit fehlt einem die Fantasie, sich vorzustellen, wer Nummer neun und zehn verhindern soll. Die Münchner haben die Corona-Zeit genutzt, um Verträge zu verlängern und eine Zukunfts-Elf samt seriösem Trainer zu modellieren, während sie in Dortmund bereits ahnen, auf welche Weise sie sich wohl bald trösten müssen: Schön war's, Haaland und Sancho wenigstens kurz gehabt zu haben. Beide Spieler dürften den Bayern irgendwann in einem neuen Trikot wieder in der Champions League begegnen, und wenn die Bayern schwächeln, werden sie vielleicht da sein.

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SZ vom 30.05.2020/tbr
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