So manch ein Stadionbesucher hat es sich angewöhnt, bereits kurz vor Spielschluss den Heimweg anzutreten, um dem Gedränge in Bussen und Bahnen zu entgehen, was in Pandemiezeiten kein unkluger Einfall ist. Bei Partien von Eintracht Frankfurt besteht bei einem Aufbruch vor Abpfiff allerdings seit Wochen die Gefahr, das Beste zu verpassen. Beim 2:1 gegen Union Berlin untermauerten die Frankfurter ihren Ruf als Last-Minute-Spezialisten. Am Sonntag war es der aufgerückte Verteidiger Evan N'Dicka, der in der fünften Minute der Nachspielzeit "in der Luft stand wie Michael 'Air' Jordan" (O-Ton Trainer Oliver Glasner), um den Ball über die Linie zu wuchten.
Die 24 000 Zuschauer im Frankfurter Stadtwald wähnten sich am ersten Advent bei einer vorgezogenen Bescherung. Überbordende Glücksgefühle allerorten. Drei Tage zuvor hatte Goncalo Paciencia an fast selber Stelle zu fast derselben Spielzeit in der Europa League gegen Royal Antwerpen (2:2) getroffen. Wettbewerbsübergreifend haben die Hessen nun schon sechs Mal in der Nachspielzeit - dazu in Antwerpen (1:0), gegen Leipzig (1:1), in Piräus (2:1) und Fürth (2:1) - einen Wirkungstreffer bejubelt. In fünf der vergangenen sechs Pflichtspiele kam es zum späten Happy End, vier Mal davon in der 94. Minute oder noch später.
Spektakel ganz zum Schluss scheint gerade eine Frankfurter Spezialität zu sein wie Handkäs mit Musik. "Das zeugt von Moral und Mentalität, das ist kein Zufall", beteuerte Manager Markus Krösche. Kurz zuvor war Präsident Peter Fischer mit einem breiten Grinsen durch den Presseraum gelaufen und hatte ausgerufen, man denke darüber nach, künftig Tickets zum Sonderpreis von zehn Euro anzubieten - gültig ab der 90. Minute. "Die Jungs haben gefightet, gefightet, es zeichnet sie aus, dass sie nie aufgeben. Wahnsinn!", lobte Trainer Glasner, der sich aus seiner aktiven Zeit das Credo zu eigen gemacht hat: "Wenn du viel investierst, bekommt du auch viel zurück." In seiner Heimat Österreich würde man auch sagen: "Wenn's läuft, dann läuft's."
Der 47-Jährige streute noch eine philosophische Anwandlung ein: "Im Fußball hast du manchmal von Eheschließung bis Scheidung und neuerlicher Ehe alle Emotionen durch." Sein rechter Verteidiger Timothy Chandler streute im Rausch des späten Glücks beim ARD-Interview einen hübschen Versprecher ein: "Wir stecken halt nicht den Sand in den Kopf." Bei der Ursachenforschung tat sich Glasner schwer, es fielen ihm aber zwei Erklärungen ein: "Zum einen sind wir körperlich absolut fit, zum anderen sind die Jungs in jedem Training mit vollem Engagement bei der Sache." Der Lohn: Nach drei Bundesliga-Siegen in Serie schielen die Hessen vorsichtig auf die obere Tabellenhälfte.
Eintracht-Trainer Glasner besinnt sich auf das Erfolgsrezept des Vorgängers
Glasner hat mit seiner Mannschaft nach dem Stotterstart Tempo aufgenommen und orientiert sich bei Personal, Taktik und Ausrichtung inzwischen stark an seinem Landsmann Adi Hütter. Die Dreierkette mit hoch postierten Außen und einem routinierten Ruhepol in der Zentrale (Makoto Hasebe), zwei kampfstarke Sechser (Djibril Sow und Kristijan Jakic), dazu ein Freigeist in der Offensive (Daichi Kamada) und ein Perpetuum mobile auf Linksaußen (Filip Kostic) - das erinnert doch frappierend ans Erfolgsrezept des Vorgängers.
In diesem Konstrukt kann vor allem Kostic seine Vorzüge einbringen. Der nimmermüde Serbe füttert seine Mitspieler unentwegt mit Vorlagen. Gegen Berlin notierten die Statistiker neun Torschussvorlagen, 13 Flanken und 34 Sprints. Sportvorstand Krösche hat vieles richtig gemacht, als er dem 29-Jährigen im Sommer die Freigabe verweigerte. Lazio Rom hatte kurz vor Schließung des Transferfensters ein völlig unzureichendes Angebot eingereicht, und Kostic deswegen sogar eine Partie geschwänzt. Längst aber gibt der Streikprofi wieder den Mentalitätsspieler, der wie kein anderer Frankfurter für Wille, Leidenschaft und Beharrlichkeit steht.
Abgesehen von einem Hänger in der zweiten Halbzeit - als Max Kruse einen von N'Dicka verursachten Foulelfmeter zum 1:1 verwandelte (62.) - bot die Glasner-Elf ein überzeugendes Gesamtpaket. "Wir haben es nur unnötig spannend gemacht", erklärte der Schweizer Dauerläufer Sow, der mit einem wuchtigen Schuss nach abgewehrter Kostic-Ecke das 1:0 erzielt hatte (22.). Mit Blick auf das Auswärtsspiel bei der TSG Hoffenheim und das wichtige Europa-League-Gruppenspiel in Istanbul gab Torwart Kevin Trapp aber noch zu verstehen: "Wir können nicht jedes Mal darauf hoffen, dass wir in letzter Sekunde ein Tor machen."