Fußball in Deutschland:Letzte Ausfahrt vor dem Crash

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Die Südtribüne, das Herzstück des Dortmunder Stadions, wird wohl noch länger leer bleiben. (Foto: dpa)
  • Der Fußball hofft auf Geisterspiele, und zwar bald: Einem Drittel der Erstligisten und zwei Drittel der Zweitligisten könnten sonst die Pleite drohen.
  • Aber ist das wirklich vorstellbar: dass für die Nation weiter Kontaktverbot gilt, während sich 22 Fußballer auf dem Rasen ins Gesicht atmen?

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Wären die Zeiten nicht so traurig, man würde gerne schmunzeln: Andreas Rettig, zuletzt Manager bei St. Pauli, davor aber auch Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga, prophezeit im Magazin Kicker, dass "Geisterspiele" und deren Fernsehübertragung einen wichtigen Beitrag zum "Wohlbefinden" der weitgehend weggesperrten Nation leisten könnten. Rettig, als eher intellektueller Querdenker mit den Großkopferten des Fußballs bisher oft etwas über Kreuz, will damit wohl der ganzen Fußballindustrie zur Hilfe kommen.

Seit Tagen warnen ja Sozialexperten vor dem Anschwellen "häuslicher Gewalt" oder vor übervollen Frauen-Häusern angesichts der quarantäne-ähnlichen Zustände in deutschen Wohnungen. Soll also wohl heißen: Männer, die am Fernseher Fußballspiele live gucken können, haben wenigstens ihre sonstigen Emotionen im Griff.

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In Wahrheit aber wäre das Wohlbefinden in den Wohnzimmern eher ein Nebeneffekt der Rettungsversuche des Profi-Fußballs in der Corona-Krise. Geisterspiele ohne Zuschauer, aber in gewohnter Weise im TV übertragen, sind die letzte Ausfahrt vor dem Crash. Wenn die Fernsehverträge nicht erfüllt werden, so hat DFL-Chef Christian Seifert unmissverständlich klar gemacht, gingen an etlichen Liga-Standorten wohl die Lichter aus. Die Rede ist dabei von etwa einem Drittel der Erstligisten und der Hälfte aller Zweitligisten.

Welche Signale würde der Fußball senden?

Die Verluste der Liga durch den Ausfall des Spielbetriebs sind desaströs. An die 750 Millionen Euro dürften aber erst dann verloren gehen, wenn in dieser Saison gar nicht mehr gespielt würde. Von möglichen Ticket-Einnahmen haben sich die Klubs seit zwei Wochen verabschiedet, Spiele mit gewohnter Zuschauerkulisse wird es auf Monate nicht mehr geben. Doch die Frage ist: Sind Geisterspiele wirklich machbar?

Kann man im Stadion für die Gesundheit der Beteiligten auf dem Rasen und der Fernsehreporter garantieren? Und würde das gesellschaftlich akzeptiert werden, wenn Kontaktverbote und Ausgangssperren für alle gelten, während 22 Fußball-Gladiatoren wieder übereinander herfallen und sich bei jedem Zweikampf gegenseitig ins Gesicht atmen dürften? Welche Signale sendet das vor allem an die jungen Menschen aus, die man gerade dazu erzogen hat, Kontaktarmut zu üben? Und was sagen eigentlich die Virologen und Immunologen, die das Geschehen hinter den politischen Kulissen derzeit mitbestimmen?

Bis 30. April pausieren die 36 deutschen Profiklubs - vorerst. Am Dienstag tagt die Mitgliederversammlung der DFL erneut virtuell. Man hört, dass es dabei um endlose Details gehen soll, auch um Kreditberatung - und darum, welche Klubs in ihren Worst-case-Szenarien mit einer raschen Zahlungsunfähigkeit rechnen. DFL-Chef Seifert hatte es angenehm schonungslos so ausgedrückt: Man müsse schauen, wem wann genau die Luft ausgehe - angesichts der Lungenkrankheit Covid-19 muss man derzeit aber offenbar selbst die normalsten Metaphern überdenken.

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Nicht auf der Tagesordnung steht im Moment, wie es nach dem 30. April weitergehen soll. Borussia Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke ist immerhin so weit, dass er von "etwa 200 Menschen im Stadion" ausgeht, die notwendig seien, um Geisterspiele zu absolvieren und zu übertragen. Die DFL produziert den Löwenanteil aller Bilder selbst, mit ihrer Kölner Tochterfirma Sportcast. Bei einem Durchschnittsspiel sind 100 bis 120 Menschen alleine damit beschäftigt, die Live-Übertragung zu ermöglichen. Es müssen Kilometer von Kabeln verlegt, zehn bis zwölf Kameras installiert und bedient werden. In einem Camp von beengten Ü-Wagen wird Regie geführt, Bild- und Tonqualität sichergestellt, werden Livesignale von Technikern zum Satelliten geschickt. Dieser Mindeststandard an personeller Besetzung würde sich kaum eindampfen lassen.

Abstand zu halten, wie in einem Großraumbüro möglich, dürfte am Arbeitsplatz Stadion sehr viel schwieriger sein. Weltweit ruhen daher wegen der Pandemie so gut wie alle Dreharbeiten von Spielfilmen und Fernsehserien. Auch an solchen Film-Sets sind zwischen 80 und 200 Menschen bei der Arbeit, normalerweise mit Ablauf- und Produktions-Besprechungen in engen Containern und mit gemeinsamem Catering. Die Herstellung von neuen Bildern ruht deshalb global - bis auf die Nachrichtensendungen der TV-Kanäle.

Alexander Kekulé, Leiter der Virologie und Mikrobiologie der Uniklinik Halle und elf Jahre lang Berater der Bundesregierung für Fragen der Bekämpfung von Infektionskrankheiten, glaubt, dass man "in etwa drei Wochen" absehen könne, ob an Geisterspiele ohne Publikum zu denken ist. "Ich verwende dazu den Begriff des smart distancing, also einer konkreten, auf jedes Projekt einzeln bezogenen Sicherung", sagt der Arzt und Biochemiker: "Kameraleute müssten wohl mit Mund- und Augenschutz arbeiten, es müsste Sicherheitstrainings für die gesamte Crew geben. Die Fußballer selbst, bei denen Körperkontakt unvermeidlich ist, müsste man kurz vor dem Spiel testen. Die Ergebnisse wird man binnen zwei Stunden haben. Das Restrisiko für die jungen, durchtrainierten Spieler wäre dann wahrscheinlich akzeptabel", listet der Fachmann auf.

Kekulé hielte all dies für "wahrscheinlich wieder machbar" - ab September. Für die laufende Saison aber, die normal Ende Juni enden müsste, ist er skeptischer: "Ich würde den Fußballern den Rat geben - nach heutigem Stand wohlgemerkt -, die Saison abzuschreiben." Oder: die Beendigung der Saison zu verschieben, in die nächste Spielzeit, nach dem Sommer.

Der Virologe Alexander Kekulé glaubt, dass man "in etwa drei Wochen" absehen könne, ob an Geisterspiele ohne Publikum zu denken ist. (Foto: © WDR/Oliver Ziebe; WDR/Oliver Ziebe)

Der September also als Hoffnungstermin? Die Klubs wollen natürlich etwas anderes hören. Hinter vorgehaltener Hand gibt es den flehentlichen Wunsch, bereits ab Mai mit Geisterspielen beginnen zu dürfen, um die Saison, den Geldfluss, das ganze System retten zu können. Man würde dann, bis zum bisherigen Endpunkt 30. Juni, gerade noch die letzten neun Spieltage und drei DFB-Pokal-Partien durchkriegen. Mit dem von Kekulé empfohlenen smart distancing könnte der Fußball mit einigem Aufwand vermutlich Arbeitsbedingungen herstellen, die weniger Gefahren erzeugen als der Besuch im Supermarkt - wäre da nicht die Stimmung im Land. Was sagt eine kasernierte Bevölkerung, wenn der Ball wieder rollen darf?

Aus der Politik, so hört man, würden die Fußballer vorsichtig positive Signale empfangen, dass man im Mai vielleicht die letzte Ausfahrt mit Geisterspielen nehmen dürfe. Aber solche Signale ändern sich in der Krise täglich, sie sind nicht verlässlich. Soeben schwappte ja im Land bereits die Diskussion hoch, dass man die Wirtschaft mit der Epidemie-Bekämpfung nicht gänzlich abwürgen dürfe. Doch dann meldete sich Bundeskanzlerin Angela Merkel aus der häuslichen Quarantäne - und beendete die Diskussion gleich wieder.

Ein weiteres Problem: In Europas anderen großen Ligen, in Italien, Spanien und Frankreich, rechnet man angesichts der bestürzend hohen Opferzahlen in der Bevölkerung derzeit eher nicht mehr mit einer Beendigung der Saison.

Auch Englands stolze Premier League, abhängig wie kaum eine andere von den auf der Insel unanständig hohen Fernsehgeldern, hält sich inzwischen auffällig bedeckt. Mit einem Corona-infizierten Premierminister Boris Johnson und einem infizierten Thronfolger Prinz Charles dürfte das Quarantäne-Regime im Königreich erst mal so heftig angezogen werden, dass die Premier League kaum noch Chancen hätte, schnell wieder zu spielen - auch nicht mit Fußballern und Fernsehmachern allein im Stadion.

Angebliche Pläne in England, für ein Saisonende im Juni und Juli alle Mannschaften zwei Monate wie bei einer WM zu kasernieren und von der Außenwelt abzuschotten, erscheinen bislang zumindest schwer umsetzbar.

Wenn aber alle großen europäischen Ligen weiterhin stillgelegt bleiben, wie soll dann die Bundesliga glaubwürdig eine Ausnahme beantragen können?

In den Bundesliga-Klubs wird seit dieser Woche wieder mehr oder weniger gemeinsam trainiert. Aus Augsburg und Wolfsburg hört man, dass die Kommunen einer Art Übungsbetrieb zugestimmt hätten. In Dortmund haben sie beim BVB nur Zweier-Pärchen gebildet, die nun reihum und über den gesamten Tag verteilt miteinander üben: auf 15 Hektar Trainingsgelände verstreut, und mit acht Trainingsbereichen, bis hin zum "Futbonauten"-Käfig und zur leeren Leichtathletik-Halle, in denen bis zu 30 Meter Abstand möglich sind. Nie befinden sich mehr als sechs Spieler gleichzeitig auf dem Riesenareal.

Die Dortmunder Spieler dürfen sich am Gelände nicht einmal umziehen und müssen nach dem Training ohne zu duschen sofort nach Hause fahren - heißt: Kontaktsperre in extremer Form.

Doch wohl dem, der so einen Luxus von Abstand genießt. Von "Lagerkoller", wie er in einigen Haushalten inzwischen ausgebrochen sein mag, sind die Fußballer in Dortmund immerhin weit entfernt.

© SZ vom 31.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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