Süddeutsche Zeitung

Bundesliga:Der Amtsarzt macht den Meister

Erst allmählich wird den Klubs klar, dass über Aufstieg, Abstieg und Europapokal ein verzerrter Wettbewerb entscheiden dürfte. Ungeklärt ist, wie groß die Solidarität ausfällt, wenn ganze Teams in Quarantäne müssen.

Von Philipp Selldorf, Mönchengladbach

Seltsame Sätze finden in diesen Tagen mit großer Selbstverständlichkeit Eingang in den Wortschatz des Profifußballs. "Die Jungs sind heute Morgen abgestrichen worden", teilte Max Eberl am Montag mit, als er während einer Videokonferenz über den Stand der Dinge bei Borussia Mönchengladbach informierte. Mit öffentlichen Erklärungen hatte sich der Klub zuletzt zurückgehalten, nun bestätigte der Sportdirektor erstmals, was vorige Woche unter anderem die Rheinische Post berichtet hatte: Zwei Angehörige des Borussia-Personals waren während der ersten Testreihe "leicht positiv" getestet worden, wie Eberl sich ausdrückte.

Dem Vernehmen nach handelte es sich um sogenannte Altfälle. Die folgenden Tests brachten negative Resultate, "dementsprechend sind sie wieder gesund" (Eberl) und befinden sich nun mit ihren Kollegen im geschlossenen Trainingslager in einem Hotel auf dem Vereinsgelände. Zuvor wurde die Gladbacher Belegschaft ein weiteres Mal einem Corona-Test unterzogen, dem vierten mittlerweile.

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Was mag er bringen? Garantien über einen guten Ausgang gibt es auch dann nicht, wenn die vorigen Testrunden erfolgreich waren, wie das Beispiel von Dynamo Dresden belegt: Dort traten in der dritten Testrunde zwei neue positive Befunde auf. Das zuständige Gesundheitsamt verordnete 14 Tage Quarantäne für alle Beteiligten.

Die Genehmigung zur Fortsetzung der Saison bewertete nicht nur der Manager Eberl am Niederrhein als "schöne Nachricht aus der Politik", doch offenbaren sich jetzt die Tücken. Bisher haben sich die beiden Spitzenligen unter Anleitung der DFL als Solidargemeinschaft bewährt - anders etwa als in England, wo die unterschiedlichen Interessen der Klubs zum grundsätzlichen Richtungsstreit geführt haben. Nun wird sich in den Bundesligen zeigen müssen, wie stabil der Zusammenhalt im Notbetrieb ist.

Das Dresdner Team wird durch die Quarantäne, den Trainingsrückstand und den verschärften Rhythmus mit Nachholspielen sportlich zurückgeworfen, ein Nachteil, der auch anderen Klubs entstehen kann. Offenbar hat man sich mit diesen Eventualitäten wenig beschäftigt auf den vier Gipfeltreffen der DFL. Die Frage der Chancengleichheit und der oft beschworenen Integrität des Wettbewerbs sei "aktueller denn je", räumte Eberl am Montag stellvertretend für die Branche ein: "Es ist schon so, dass der Wettbewerb nicht komplett gleich ist. Damit müssen wir leider leben, aber das tun wir gern im Sinne des Fußballs."

Das wird sich zeigen. Bisher herrschte Einigkeit über das Ziel: Man wollte verhindern, dass Vereine pleitegehen, die Ligen zerfallen und Entscheidungen über Abstieg, Aufstieg, Meisterschaft, Europacup am grünen Tisch geklärt werden. Worüber man sich aber noch nicht ausreichend ausgetauscht hat: dass im Sonderspielbetrieb der Saisonausgang unter gravierend unterschiedlichen Bedingungen entschieden werden könnte. Wie lang wird die Einheit halten, wenn die Ziele einzelner Klubs in Gefahr geraten, deren Teams kollektiv in Quarantäne genommen wurden?

Vom Tabellenführer der ersten Liga, Bayern München, bis zum Tabellenletzten der zweiten Liga, Dynamo Dresden, wird dann eine quasi bedingungslose Solidarität gefragt sein. Sonst könnte es Klagen und die Fortsetzung der Saison auf dem Rechtsweg geben. "Es gibt noch keine einheitliche Meinung dazu, wir müssen uns mit der Thematik befassen", erklärte Eberl. Das sei aber nicht seine Sache als Sportdirektor in Mönchengladbach, sondern Aufgabe der DFL.

Ein Spielbetrieb "auf tönernen Füßen"

Wie der Fall Salomon Kalou, der den menschlichen Faktor im Hygienekonzept entlarvte, stellt der Fall Dynamo Dresden eine Warnung und Belastungsprobe für das System dar. Während Kalou verdeutlichte, dass die Einhaltung des medizinischen Konzepts im Alltag ständig überprüft werden muss, belegt Dynamo, dass ein Klub unverschuldet zum Verlierer des Verfahrens werden kann. Zugespitzt formuliert: Am Ende könnten außer dem unkalkulierbar auftauchenden Virus Gesundheitsämter und Amtsärzte entscheiden, wer Meister wird oder absteigt. Über die Bewertung der Dresdner Behörde, den kompletten Kader heimzuschicken anstatt lediglich die Betroffenen auszuschließen, zeigte sich Max Eberl mit Hinweis auf sein Verständnis der Vorgaben des Robert-Koch-Instituts "überrascht". Das Amt erklärte, es habe keinen Spielraum für eine andere Beurteilung gegeben.

Auch das allgemeine Verletzungsrisiko dürfte, wie man den beschwerdefreudigen Profibetrieb kennt, für Diskussionen sorgen. Der Sportdirektor des Karlsruher SC, Oliver Kreuzer, rechnet wie viele Experten mit einer erhöhten Ausfallquote. Die Statuten sehen vor, dass ein Verein zur nächsten Partie antreten muss, solange er 13 einsatzfähige Feldspieler und zwei Torhüter zur Verfügung hat, zwischen Stamm- und Nachwuchskräften wird dabei nicht unterschieden. Kreuzer ist bereit, diese Prämisse zu akzeptieren: "Ob das Wettbewerbsverzerrung ist oder ob Teams dann überhaupt noch konkurrenzfähig sind, das interessiert nicht. Wir brauchen das TV-Geld. Deshalb muss gespielt werden." Ob im Ernstfall alle so denken wie er? Das ganze Verfahren sei "eine Wundertüte", findet Union Berlins Präsident Dirk Zingler, niemand wisse, "wie Mannschaften und Spieler mit den Abläufen umgehen. Aber am Ende herrscht Wettbewerbsgleichheit. Alle starten in eine Etappe Bundesliga-Fußball, die es noch nie gegeben hat."

Letztlich stehe dieser Spielbetrieb "auf tönernen Füßen", stimmt Eberl zu. Vielleicht muss noch ein weiteres Gipfeltreffen stattfinden, um das System stabiler zu machen. Bisher baut der Notplan auf einer freiwilligen Selbstverpflichtung der 36 Beteiligten auf. Nun gehört es wohl auch zur Integrität des Wettbewerbs, seine möglicherweise krasse Ungleichheit verbindlich anzuerkennen.

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Quelle:
SZ vom 12.05.2020/ska
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