Fußball:Rudel kennen keine Abstandsregel

Borussia Dortmund FC Schalke 04 27 04 2019 Salif Sane und Breel Embolo S04 müssen Torwart Bürki

Im Revierderby wird es wohl trotz Corona-Regeln emotional zugehen

(Foto: Horstmüller/imago)

Der Bundesliga-Start am 16. Mai steht gewissermaßen im Dienste der Wissenschaft: Wie hoch das Risiko für die Beteiligten wirklich ist, kann kein Arzt derzeit konkretisieren.

Von Werner Bartens

Es hilft alles nichts, die Bundesliga muss sich mit der Pandemie arrangieren. Neu im Programm sind strenge Hygiene-Konzepte, Vereinzelungsregeln für die Dusche und medizinische Tests, bei denen es nicht um Laktatwerte, sondern um die Virenlast geht. Vielleicht müssen sich die Vereine auch an ein zusätzliches Team gewöhnen, einen 19. Klub in jeder Profiliga. Meister werden kann er nicht, absteigen auch nicht, aber eine Qualifikation für die Champions League wäre drin. Und womöglich bekommt diese ominöse Mannschaft vor Beginn der Transferperiode noch erheblichen Zuwachs - und zwar ablösefrei.

Die Rede ist von einem Verein, der wahlweise Corona-Sportgruppe, Pandemia 05 oder Aerosol Heinsberg heißen könnte; der westlichste Landkreis der Republik ist ja nicht nur für ansteckende Karnevalssitzungen bekannt, sondern längst zum Synonym für die Ausbreitung von Sars-CoV-2 in Deutschland geworden. Ein Traditionsverein wäre der Klub mit dem Gründungsjahr 2020 nicht gerade, er würde sich vielmehr aus jenen Profis zusammensetzen, die sich in der am 16. Mai fortgesetzten Saison quer durch die Liga mit dem neuartigen Coronavirus anstecken und dann positiv getestet werden. Mit jedem Spieltag kämen ein paar weitere Kicker dazu.

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Die DFL hat sich bemüht, zumindest die Spieler, Trainer und Betreuer vor Infektionen zu schützen. Die Kulisse ohne Zuschauer macht den Volkssport Nummer eins im Kern also zu einer sterilen Veranstaltung, keimfrei wird er trotzdem nicht sein. Denn selbst wenn Handschlag, Trikottausch, Einlaufkinder und Rudelbildung unterbleiben, ist leidenschaftlicher Fußball ohne Zweikampf, hitzige Wortgefechte und Sprints mit dem Aerosol des Gegners im Nacken schwer vermittelbar.

Kann man sich das Revierderby Dortmund gegen Schalke vorstellen, wenn alle Beteiligten dabei auf Laufduelle, Rangeleien vor Ecken und Freistößen verzichten, und vor allem auf Schweiß, Tränen und Tröpfchen? Dann könnten die Kontrahenten den Sieger gleich an der Playstation ermitteln oder für die restliche Rückrunde die Durchschnittsergebnisse errechnen - etwa so wie Bayerns Abiturienten für das derzeitige Halbjahr.

Insofern nimmt die Bundesliga nicht nur zu einem überraschend frühen Termin den Spielbetrieb wieder auf, sondern sie startet zugleich auch eine große Feldstudie, an der allein in der Bundesliga mehr als 400 Spieler und mindestens so viele Trainer, Betreuer, Mitarbeiter und andere Helfer teilnehmen. In der Medizin sind die heroischen Selbstversuche etwas aus der Mode gekommen, aber hier stellen sich junge, vorgeblich gesunde Männer in den Dienst der Wissenschaft. Womöglich werden wie von der Analyse der Passagiere auf Kreuzfahrtschiffen, die sich in die Quarantäne verabschieden mussten, bald wertvolle Erkenntnisse vom Sommerkick einiger Abstiegskandidaten ausgehen.

Je nachdem, wie sehr man zu apokalyptischen Szenarien neigt, kann man den Anstoß am kommenden Samstag um 15.30 Uhr deshalb als ein unverantwortliches Menschenexperiment geißeln - oder als Versuch sehen, die Risiken so weit zu minimieren, wie es einst der Filmklassiker mit Jack Nicholson versprach: "Besser geht's nicht." Und nebenbei springen vielleicht noch ein paar hilfreiche Einsichten über die Verbreitung des Virus in einer jungen, austrainierten Population heraus.

Wissenschaftlich gedeckt wären beide Sichtweisen. Zunächst eine Prise Apokalypse: Bisher ist wenig über mögliche Langzeitschäden nach einer Covid-19-Erkrankung bekannt. Fünf Monate, die das Virus in Europa herumgezogen ist, sind zwar zu wenig, um Langzeitschäden seriös zu prognostizieren. Ärzte aus Innsbruck haben in Aufnahmen der Lunge allerdings Veränderungen gesehen, auch wenn die Infizierten längst wieder gesund und aus der Klinik entlassen waren. Ob es sich dabei um harmlose Restbefunde oder klinisch relevante Einschränkungen handelt, kann derzeit niemand mit Sicherheit sagen, das wird sich erst nach Jahren zeigen.

Viren könnten tiefer in die Lunge geraten

Und auch wenn die Erkrankung mit dem neuartigen Coronavirus schon früh als Leiden der Älteren beschrieben wurde, hat sich längst gezeigt, dass die Schwere der Symptome auch von der Viruslast abhängt, die das Individuum abbekommt. Das gilt für jedes Alter. Üblicherweise besiedelt das Virus ja zunächst den Rachen. Kann es dort eliminiert werden, sind keine oder nur milde Symptome zu erwarten. Gelangt es eine Etage tiefer in die Lunge, drohen stärkere Beschwerden und mögliche Folgeschäden in anderen Organen.

Prustet und hechelt ein 26-jähriger Infizierter in höchster Anstrengung im Zweikampf den Gegenspieler an, nimmt dieser sicher größere Mengen Tröpfchen und Aerosol auf als zwei 66-Jährige, die sich auf der Straße unterhalten. Wer im Eifer des Gefechts das volle Lungenvolumen des Gegners abbekommt, selbst heftig schnauft und also tief inhaliert, erkrankt womöglich schwerer - auch wenn er zuvor exzellente Ausdauerwerte aufwies und in jedem Spiel zwölf Kilometer abspulte.

Kleiner Tipp am Rande: Bei Meinungsverschiedenheiten sollten die Kicker besser singen, als sich anzuschreien oder zu spucken. Kein Witz: Strömungsmechaniker der Bundeswehr-Universität in München haben mit Hilfe einer Solistin des Salzburger Mozarteums und des Gärtnerplatz-Orchesters beobachtet, dass "Luft beim Singen nur im Bereich bis 0,5 Meter vor dem Mund in Bewegung versetzt wird, unabhängig davon wie laut der Ton war und welche Tonhöhe gesungen wurde". Ode an die Freude also statt Beleidigungen im Husten-Stakkato. Wer niest, hustet oder bellend schreit, stößt hingegen Tröpfchen in einem Tempo von 180 Stundenkilometern bis zu drei Meter aus.

Mit einer Infektion in den Wettkampf zu gehen, ist immer riskant

Allround-Experten wie Karl Lauterbach haben zwar davor gewarnt, dass es gefährlich sei, den Wettkampf wieder aufzunehmen. "Wer mit Covid-19 trainiert, riskiert Schäden an Lunge, Herz und Nieren. Ich wundere mich, dass Spieler das mit sich machen lassen", teilte er über Twitter mit. Wie hoch das Risiko wirklich ist, kann jedoch kein Arzt derzeit konkretisieren.

Mit einer Infektion in den Wettkampf zu gehen, ist übrigens immer riskant. Das war allerdings schon vor Corona so, auch wenn Profis wie Dirk Nowitzki als Helden gefeiert wurden, weil sie mit Fieber und Schüttelfrost die NBA-Finals bestritten haben. Sport mit einer Streptokokken-Angina kann beispielsweise schwerste Schäden am Herzen hervorrufen und akut aber auch noch Jahre später zum plötzlichen Herztod führen. Mit Infektionen gleich welcher Art im Stadion aufzulaufen, ist schlicht fahrlässig.

Selbst wenn die Landesgartenschau in Ingolstadt gerade auf 2021 verschoben wurde, gibt es natürlich auch Indizien dafür, dass die Rückkehr auf den Fußballrasen glimpflich verlaufen könnte. Das gut 50-seitige Sicherheitskonzept der DFL weist zwar etliche Lücken auf und ist teilweise von einer originellen Distanz zum Profialltag geprägt, auch wenn keiner mehr den Salomon Kalou machen sollte. Und die fünf Auswechslungen, die auf Initiative des Weltfußball-Verbandes Fifa ab sofort erlaubt werden, sind im Grunde eher kontraproduktiv, weil sie den Kreis der potenziell Gefährdeten unnötig erweitern.

Um Gesundheit geht es nie

Aber immerhin ist die Ernsthaftigkeit zu erkennen, penibel auf Hygiene zu achten, mögliche Ansteckungen rasch zu identifizieren und Infektionsketten zu unterbrechen. Wahrscheinlich ist die Gefahr, Viren zu übertragen für jubelnde Micro-Communities ("häusliche Zusammenkünfte") vor dem heimischen Fernseher tatsächlich größer als für die Profis.

Zudem werden Bundesligaspieler vermutlich seltener krank und - wenn es doch passieren sollte - mildere Symptome haben. Sie haben aufgrund ihres Alters, ihrer Fitness und wenig Vorerkrankungen bessere Aussichten, mit Sars-CoV-2 fertig zu werden, was aber nur gilt, wenn sie nicht die volle Virenladung abbekommen.

In dieser Pandemie auf unkalkulierbare Gesundheitsgefahren für Profis hinzuweisen, ist hingegen rührend naiv. Klar, trotz einer Flut an Fachartikeln und Expertenmeinungen weiß man über Corona vieles noch nicht. Doch Leistungssport ist kalkulierter Extremismus, das war schon immer so. Um Gesundheit geht es da nie, Ausnahmekönner begeben sich vielmehr bewusst in Ausnahmesituationen - und das kann gefährlich werden. "Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein", hat der große Bertolt Brecht vor fast einem Jahrhundert erkannt.

Dass Profis ihre Risiken sonst einschätzen können, im Fall von Corona aber nicht, wie Kritiker den Liga-Verantwortlichen vorwerfen, stimmt deshalb nicht. Ein Athlet weiß vor dem Zweikampf nie, ob er nur einen blauen Fleck abbekommt oder hinterher mit zerstörtem Sprunggelenk zum Sportinvaliden wird. Er kann aber wissen, dass er trotz des prallen Übermuts, derzeit voll im Saft zu stehen und Bäume ausreißen zu wollen, mit Ende 40 womöglich schon eine künstliche Hüfte braucht und die vielen Kopfbälle dem abstrakten Denken nicht zuträglich sind. Dafür profitiert er in jungen Jahren von Ruhm, Anerkennung, Status, Geld und bedient außerdem einen beliebten Unterhaltungssektor.

Dieses Kalkül müsste jedem Profi bewusst sein; zum Wettkampf gezwungen wird auch in Zeiten der Pandemie keiner. Vielmehr handelt es sich um eine lukrativ stimulierte Freiwilligkeit mit gewissem Einsatz. Mögen die Spiele beginnen. Das Ergebnis auf dem Feld ist so ungewiss wie das beim Arzt und im Labor.

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