Zuschauer in der Bundesliga:Erosion der Leidenschaft

Zuschauer in der Bundesliga: Jubel vor leeren Rängen: Wahrscheinlich wird der BVB eine weitere Saison ohne Zuschauer spielen müssen - selbst im besten Fall dürften wohl nur 12 000 Fans ins Dortmunder Stadion.

Jubel vor leeren Rängen: Wahrscheinlich wird der BVB eine weitere Saison ohne Zuschauer spielen müssen - selbst im besten Fall dürften wohl nur 12 000 Fans ins Dortmunder Stadion.

(Foto: Martin Meissner/AFP)

Die DFL diskutiert, ob und wann Fans zurückkehren könnten. Doch selbst beim besten Konzept erwarten die Klubs weitere Millionenverluste und fürchten, dass ganze Zuschauergruppen die Lust am Fußball verlieren.

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

In jedem normalen Jahr würde im Erdgeschoss von Borussia Dortmund gerade durchgeatmet. 55 000 Dauerkarten wären verschickt, mehr als 20 Millionen Euro dafür einkassiert, wie jedes Jahr ein deutscher Rekord, für den sich Ticketing-Chef Matthias Naversnik bei der Belegschaft bedanken würde. Die Saison könnte kommen. In diesem Sommer aber, in Zeiten von Corona, ist alles anders. Kein einziges Jahresticket verkauft, tote Hose, wie man in Dortmund so sagt. Und vorerst wird es auch nicht besser.

An diesem Dienstag will die Deutsche Fußball Liga (DFL) auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung darüber debattieren, ob und wie man sich eine Rückkehr von Zuschauern in die Bundesliga-Stadien vorstellt, was denkbar und machbar ist, was man den Behörden und der Politik als Konzept anbieten kann. Aber hinter den Kulissen wird schon seit Wochen im Graswurzelprinzip mit den lokalen Entscheidern, den Landesregierungen und dem Bund die Lage ventiliert. "Es ist klar", sagt Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, "dass die wieder steigenden Infektionszahlen bei uns und in den Nachbarländern für eine neue Verunsicherung sorgen. Das ist nicht gut." Egal, was die DFL-Versammlung beschließen möchte, alles läuft am Ende auf Entscheidungen der Politik hinaus. Und klar ist, dass es auf absehbare Zeit keine auch nur halbwegs vollen Stadien geben wird.

Die Einnahmeausfälle der vergangenen Saison, als die letzten neun Runden als sogenannte Geisterspiele ausgetragen wurden, mit Kameras, aber ohne Fans - sie waren noch harmlos im Vergleich zu dem, was den Klubs jetzt an Verlusten bevorstehen dürfte. Dortmund zum Beispiel, dessen Aktionäre an bescheidene, aber regelmäßige Dividenden gewohnt waren, hat die vergangene Saison mit einem Verlust von 45 Millionen Euro abgeschlossen. Bei anderen Klubs sind die Verluste in absoluten Zahlen vermutlich geringer, mit Ausnahme des FC Bayern, aber alle anderen, außer den Bayern und Dortmund, haben auch keine riesige Eigenkapitalbasis. Die des BVB liegt bei circa 350 Millionen Euro. Da kann man nun zähneknirschend die Ersparnisse der vergangenen Jahre opfern, bei fast allen anderen Klubs sieht es dagegen düster aus. Der BVB, der wegen seines Status als börsennotierte "Kommanditgesellschaft auf Aktien" als einziger Klub seine Bilanzzahlen detailliert veröffentlichen muss, kann sich schon jetzt auf ein Jahr mit Verlusten weit jenseits von 50 Millionen Euro einrichten. Es könnten auch 75 Millionen werden.

Im schlechtesten Fall droht eine komplette Saison mit Geisterspielen

Die Stimmen aus der Politik sind zwar noch vage, aber Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, in Fragen von Corona und Fußball ziemlich stimmgewaltig, kündigte am Wochenende schon einmal an, dass es auch ab Beginn der neuen Saison zunächst Geisterspiele ganz ohne Zuschauer geben könne. Man müsse die Entwicklung beobachten. Bei Borussia Dortmund haben sie deshalb den Dauerkartenverkauf komplett abgeblasen. "Wir müssen flexibel reagieren können, ob und wie viele Zuschauer wir ins Stadion lassen dürfen, und das können wir ja nicht mehr, wenn wir Dauerkarten verkauft haben", sagt BVB-Chef Watzke. Man richtet sich also auf eine längere Mangelverwaltung ein.

Das könnte im schlechtesten Fall eine komplette Saison mit Geisterspielen sein, weil die Virologen und Epidemiologen für die Wintermonate bis zum April 2021 keine große Entwarnung mehr in Aussicht stellen. Der Idealfall im Unglück wäre es, wenn eine kleine Zuschauerbesetzung zugelassen werden würde. In Dortmunds Stadion, dem größten in Deutschland mit einer Kapazität von über 81 000, könnten 12 000 Zuschauer solch eine Obergrenze darstellen. Auf Monate hinaus. In anderen Stadien richtet sich die Corona-Kapazität nach vielen lokalen Bedingungen: Wie viel Platz ist auf den Gängen zu den Plätzen? Wie belastbar ist das Nahverkehrssystem, das ja auf einen Schlag 10 000 oder 20 000 Menschen transportieren soll? Wie geht das, ohne Abstand, vor allem nach dem Spiel, wenn alle gleichzeitig heim wollen?

Dortmund und die Bayern beziehen einen Großteil ihrer Zuschauereinnahmen aus den "Hospitality"-Bereichen. Das sind in Dortmund etwa 4000 betuchtere Anhänger, die in Logen und Bewirtungszonen normalerweise mit Essen und Trinken versorgt werden, und die dabei eng zusammenstehen und -sitzen. BVB und Bayern kämpfen darum, diese Sektionen wenigstens teilweise öffnen zu dürfen, weil der Verlust dieser Zuschauer besonders ins Kontor schlägt. Stehplätze dagegen, daran lässt die DFL im vorab ausgegebenen "Leitfaden" keinen Zweifel, wird es vorerst nicht mehr geben. Das stimmungsvolle, enge, feuchtfröhliche Zusammenstehen der Fangruppen lässt sich mit den Corona-Regularien ziemlich offensichtlich so wenig vereinbaren wie Partys am Ballermann von Mallorca oder auf Skihütten in Ischgl.

Ganze Zuschauergruppen könnten die Lust am Fußball verlieren

Dass die Fan-Vereinigungen, vor allem die Ultras-Gruppen, die seit Jahren erfolgreich für die Stehplatzkultur in den deutschen Stadien kämpfen, über die Entwicklung frustriert sind, liegt nahe. Selbst den Ultras fehlen die Argumente, wenn es darum geht, die Enge von Stehplatzrängen in Corona-Zeiten verteidigen zu wollen. Anfeuern mit Mundschutz ist wohl selbst für die kreativsten Fangruppen nicht denkbar. Die Frage ist auch: Selbst wenn die Klubs wieder eine begrenzte Zahl von Anhängern einlassen dürfen - wie wird die Atmosphäre sein, wenn es Anfeuerung trotzdem kaum geben kann und Abstände von eineinhalb Metern gefordert sind? Gerade Dortmund, mit seinen von Beginn an sehr "englisch" gestalteten kurzen Abständen zwischen Zuschauern und Spielfeld, ist in dieser Hinsicht ein sensibler Standort. "Bei uns sind beispielsweise die Abstände der Sitzschalen voneinander etwas geringer als in einigen später gebauten, modernen Stadien. Deshalb verlieren wir mehr Kapazität, wenn wir Abstände einhalten wollen", sagt Watzke.

Die Fans vieler Klubs, auch der Vereinigung "The Unity" in Dortmund, haben ihre Ablehnung gegen Geisterspiele schriftlich veröffentlicht, eingeschränkte Kapazitäten sehen sie ebenfalls kritisch. Aber auch andere Zuschauergruppen, also die große Mehrheit, die eher schweigt als anfeuert, drohen allmählich die große Lust am Fußball zu verlieren. Watzke beunruhigt dieser Trend. Selbst bei den Hardcore-Fans ist eine gewisse Erosion der Leidenschaften gerade spürbar.

In Dortmund sind sie daran gewöhnt, dass bei internationalen Spielen, vor allem in der Champions League, die "Gelbe Wand", also die größte Stehplatztribüne der Welt mit ihren 25 000 Fans, umgestaltet wird. Die einsteckbaren Sitzschalen werden rausgezogen, die Kapazität ist geringer als in der Bundesliga. Der Europäische Fußball-Verband schreibt das so vor, die Uefa will keine Stehplätze. Man hat in Dortmund deshalb Erfahrungen mit der Reduzierung der Maximalkapazität auf dann nur noch 66 000. Für die Corona-Phase wird das Stadion permanent auf Sitzplätze umgestaltet, was nur ein paar Stunden Arbeit macht. Vorerst, so überlegt der BVB, will man dann das knappe Kontingent der Eintrittskarten unter den registrierten Dauerkartenkunden der vergangenen Saison verlosen. Mit dem Zusatz, dass reihum alle drankommen. Wer also im ersten Spiel einen Platz zugelost bekommt, wird erst ungefähr beim fünften wieder eine Chance haben. Ganz ungewohnt ist auch das in Dortmund nicht, denn für Endspiele, zum Beispiel das DFB-Pokalfinale in Berlin, muss der BVB stets ein Losverfahren anwenden, um die bis zu 150 000 Kartenwünsche von BVB-Fans zu bedienen.

Für die meisten Klubs gilt: Alarmstufe Rot

Immerhin aber haben sie in Dortmund und sehr wahrscheinlich bei den Bayern sowie bei den vier von Sponsoren kontrollierten Bundesligisten (Leverkusen, Leipzig, Wolfsburg, Hoffenheim) eine gute Chance, die kommende Saison durchzustehen. Mit Verlusten, mit Schulden, aber doch beherrschbar. Für alle anderen Klubs gilt Alarmstufe Rot. Schalke 04 zum Beispiel ist mit rund 200 Millionen Euro Schulden bereits so tief in der Kreide, dass das Land NRW nun mit einer Landesbürgschaft von geschätzten 33 Millionen Euro aushilft. Und dabei gehört Schalke noch zu den etabliertesten Klubs.

Beim BVB haben die Spieler, wie man hört, auf zunächst 20 Prozent ihrer Gehälter verzichtet. Wenn gespielt wird, jedoch ohne oder weitgehend ohne Zuschauer, reduziert sich dies auf zehn Prozent. Die Lizenzspieler sollen dem Klub als Gegenleistung abverlangt haben, dass allen normalen BVB-Angestellten weder gekündigt wird noch sie in Kurzarbeit geschickt werden. Daran hält sich der Klub. Möglich ist das nur durch eine Reihe von Kreditrahmen, die Watzke bei mehreren Banken seit Jahresbeginn eingesammelt hat. Der BVB ist kreditwürdig, immerhin. Das liegt an den soliden Finanzen, aber vor allem am wertvollen Kader. Allerdings: Verkaufen will Dortmund keinen seiner wichtigen Spieler, auch nicht den aus der Premier League umworbenen Engländer Jadon Sancho. Dem haben Watzke und Sportchef Michael Zorc ein Preisschild von mindestens 120 Millionen Euro umgehängt. So viel wird in diesen Zeiten selbst ein Kandidat wie Manchester United kaum zahlen wollen.

Auch das ist eine Folge des Einbruchs im Fußball. Der vermeintliche Krösus Dortmund hat derzeit "gar keine Einnahmen", sagt Watzke. Erst wenn die Fernsehgelder wieder fließen und die ersten Tranchen der Sponsorengelder kommen, wird das Bild sich aufhellen. "Vor Mitte August erwarte ich keine Ansagen aus der Politik", sagt Watzke. Auch danach wird man wohl monatelang nie gesichert wissen, woran man ist, und wie viel Geld man einnehmen kann. Ein Geschäft wie auf dem Jahrmarkt bei Regen, nur viel ungewisser.

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