Nach 22 Minuten wurde es Axel Witsel zu bunt: Der belgische Nationalspieler in Diensten von Borussia Dortmund verließ seinen Posten im defensiven Mittelfeld und lief im Vollsprint auf Leverkusens Torhüter Lukas Hradecky zu. Nur wenige Sequenzen später tauchte der Mann mit der unverwechselbaren Frisur wieder in der Nähe seines eigenen Keepers Roman Bürki auf und stauchte die Innenverteidigung lautstark zusammen. Seit er beim BVB angeheuert hat, füllt Witsel beim Tabellenführer der Bundesliga die Rolle des Chefstrategen aus, doch nun fühlte sich der schwarz-gelbe Häuptling wie im falschen Film.
Wie konnte es sein, dass die Gäste aus dem Rheinland das Spiel derart beherrschten? Warum hatte der Gegner 80 Prozent Ballbesitz, während die Borussia mit der bemitleidenswerten Unterlegenheit einer Schülermannschaft über den Rasen irrte? War da wirklich die Mannschaft zu sehen, die dem Rekordmeister aus München in der wundersamen Hinrunde mit spielerischer Leichtigkeit bis auf neun Punkte enteilt war?
Als Schiedsrichter Christian Dingert von der TSG Burglichtenberg in der Pfalz später am Abend zum letzten Mal in seine Trillerpfeife blies, brandete im Dortmunder Stadion kein Jubelsturm auf. Zu vernehmen war eher ein kollektiver Stoßseufzer von elf Spielern, der Bank mit Ersatzleuten und Trainerstab sowie der überwiegenden Mehrheit unter den 80.000 Besuchern. 3:2 (2:1) gegen Bayer Leverkusen in einem mitreißenden Schlagabtausch und damit endlich wieder ein Sieg nach Wochen des Wartens, in denen es diverse Rückschläge gab und die Bayern dem souveränen Herbstmeister bedrohlich nahe gerückt waren. Die Erleichterung war bis auf den letzten Rang zu spüren.
Dortmund hat den Trend endlich umgedreht
Die Szenerie glich einem stillen Genießen darüber, den Trend nach drei Unentschieden in der Liga, dem Aus im DFB-Pokal gegen Werder Bremen und der deprimierend deutlichen 0:3-Schlappe im Champions-League-Achtelfinale bei den Tottenham Hotspurs endlich umgedreht zu haben. Trainer Lucien Favre traf sich mit seinem Kollegen Peter Bosz, um sich mit ihm lange und intensiv über die vorangegangenen 90 Minuten auszutauschen. Später wurde der Schweizer gefragt, was denn der Inhalt des Exkurses gewesen sei: "Ach", antwortete der 61-Jährige mit einem Lächeln, "wie das Spiel so war. Es war sehr intensiv - auf beiden Seiten."
In der Anfangsphase jagten die Leverkusener ihren Kontrahenten so kombinationssicher, spielfreudig, technisch beschlagen und temporeich über den Rasen, wie das der BVB in der Hinrunde gezeigt hatte, als Favres Elf noch mit jener Leichtigkeit des Seins agierte, die nun der Gegner auf den Platz brachte. "Da waren sie wirklich besser als wir", analysierte Favre, und die Zahlen unterlegten diese Aussage.
Die Frage, ob es der Matchplan gewesen sei, dass sich der Gegner austoben solle, um dann eiskalt zurückzuschlagen, quittierte Dortmunds Sportdirektor Michael Zorc mit einem deutlichen Kopfschütteln: "Zuhause willst du das Spiel dominieren, das ist uns nicht gelungen. Wir sind dem Ball ständig hinterhergelaufen."
Es kamen einige glückliche Umstände zusammen, dass Dortmund diese Phase glimpflich überstand, um das Spiel so zu gestalten, dass es in einen offenen Schlagabtausch mündete, in dem der BVB seine Chancen etwas besser nutzte. "Wir waren die klar bessere Mannschaft", sagte Leverkusens starker Spielmacher Kai Havertz, "umso bitterer ist es, dass wir verloren haben." Dem mochte niemand ernsthaft widersprechen, auch die Gastgeber wussten, dass diese Begegnung auch anders hätte ausgehen können: "Es war wichtig für die Mannschaft, dass sie merkt, dass sie auch ohne Marco Reus gewinnen kann", konstatierte Zorc: "Insofern ist heute das Ergebnis das beste, auch wenn wir nicht wirklich die Spielkontrolle hatten."
Unter dem neuen Trainer Bosz bleibt Leverkusen schwer ausrechenbar: Tollen Leistungen wie dem eindrucksvollen Heimsieg gegen die Bayern und dem spektakulären 5:0 in Mainz stehen Pleiten im DFB-Pokal und der Europa League gegen die Fußball-Riesen aus Heidenheim und Krasnodar gegenüber. Es ist weiterhin schwierig, aus dieser Mannschaft schlau zu werden, was auch am Mann auf der Bank liegen könnte. Unter Bosz erlebte bereits Borussia Dortmund in der vergangenen Saison eine schwer zu ergründende Achterbahnfahrt: Nach furiosem Saisonbeginn, als sich der BVB an der Tabellenspitze mit fünf Punkten vom Branchenprimus aus München absetzte, folgten der Absturz und die Entlassung des Niederländers, der bei seiner Vorstellung im Rheinland betonte, mit Deutschland sei er "noch nicht fertig".
Trotz der Niederlage hinterließ Bayer im Revier über weite Strecken einen starken Eindruck, der erneut spielfreudige Nationalspieler Julian Brandt hofft daher auf weiteren Rückenwind: "Wenn wir noch ein paar Kleinigkeiten hinkriegen, wird es noch eine gute Saison." Währenddessen fühlen sie sich beim BVB gewappnet für die letzten elf Herausforderungen in der Liga und das zu erwartende Kopf-an-Kopf-Rennen im Titelrennen mit den Bayern. "Wir haben gelitten, wir haben gewonnen, es war sehr, sehr wichtig für die Moral", betonte Favre.
Die Borussia hat also das Siegen wiederentdeckt, doch die Macher bleiben sich treu: Das Wort Meisterschaft steht bei Michael Zorc und seinen Mitstreitern weiterhin auf dem Index. Immerhin, so weit traute er sich nach einem aufregenden Abend dann doch aus der Deckung: "Dritter wollen wir nicht werden."