Bundesliga-Aufsteiger Holstein Kiel:Nur nicht stressen lassen!

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Gemeinsam ins Oberhaus: Kiels Trainer Marcel Rapp (von links), Aufstiegsarchitekt Uwe Stöver und der neue Sportchef Carsten Wehlmann. (Foto: Wolfgang Zink/Zink / imago)

Holstein Kiel ist der erste Bundesligist des Landes Schleswig-Holstein – und will in der neuen Liga bloß nicht unvernünftig werden. In der Rolle des Außenseiters fühlen sich die Kieler wohl.

Von Thomas Hürner, Kiel

In Kiel ticken die Uhren ein wenig anders, weil dort zwei Uhrzeiger in unterschiedlichem Tempo ihre Wege kreisen. Der eine Zeiger dreht sich so atemberaubend schnell, dass der ortsansässige Fußballklub kaum eine Chance hat, mit seiner eigenen Entwicklung Schritt zu halten. Sichtbar wird das am Holstein-Stadion im Norden der Stadt, einem der improvisiertesten Bauwerke des Landes: Je nachdem, auf welcher Tribüne man sich befindet, sieht man Backstein, Betonmauern, Wellblech oder Stahlrohre ins Blickfeld ragen.

Die Spielstätte wurde 1911 eröffnet und ist heute eine derart wilde Konstruktion, dass Architekturseminare von Exkursionen dorthin eher absehen dürften. Infrastruktur braucht eben Zeit. Und weil die Kieler sich in nur sieben Jahren von einem Drittligisten zum ersten Erstligisten des Bundeslands Schleswig-Holstein verwandelt haben, haben sie etliche Zusatztribünen und Anbauten hochgezogen, mit denen die Paragrafenwächter vom Ligaverband besänftigt werden sollten. Was übrigens nur deshalb gelang, weil die Herrschaften mindestens eineinhalb Augen zugedrückt haben. 

Doch da ist noch der andere Kieler Uhrzeiger. Er schreitet nur gemächlich voran und vermittelt das Gefühl von wohliger Entschleunigung. Hatz ist des Norddeutschen Sache ohnehin nicht, und im fußballbewegten Teil von Kiel gilt das umso mehr, eine fast meditative Ruhe gehört bei Holstein zum Erfolgsprinzip: Nur nicht treiben lassen. Nur nicht stressen lassen. Sich auch mal ein Stündchen mehr Zeit nehmen, wenn eine wichtige Entscheidung ansteht.

Ein Sportchef muss das bei diesem Klub verinnerlicht haben, das weiß auch Carsten Wehlmann, 52, der in der Woche vor dem Kieler Erstliga-Debüt den Eindruck hinterlässt, dass ihm das auch in stürmischen Phasen gelingen könnte. Wehlmann ist so etwas wie das Vorzeigebeispiel für den Holstein-Weg, er spricht mit bemerkenswerter Unaufgeregtheit und hat sich auf derart ungewöhnliche Weise bei seinem Klub integriert, dass es für die Kieler fast schon wieder typisch ist. „Normalerweise“, sagt Wehlmann, beziehe man bei Dienstbeginn ein „leeres Büro“, dort müsse man sich dann erst mal einarbeiten, die neuen Kolleginnen und Kollegen kennenlernen. Sein Büro war aber nicht leer, denn dort saß Uwe Stöver, der Architekt des Kieler Aufstiegs. Wehlmann, seit März als Geschäftsführer-Sport angestellt, wurde von seinem Vorgänger eingearbeitet. Das sei „wahrscheinlich relativ einmalig“ im deutschen Profifußball, glaubt er – und tatsächlich geben die Archive nicht viele Gegenbeispiele dafür her.

Die Kieler halten es halt gerne puritanisch – wieso also die Sache unnötig kompliziert machen?

Typisch Kiel: Der neue Sportchef wurde eingearbeitet – von seinem Vorgänger

So gesehen ist Carsten Wehlmann eine schlüssige Wahl gewesen. Er hat früher als Torwarttrainer und Chefscout bei den Kielern gearbeitet und danach Darmstadt 98 in die erste Liga geführt, einen weiteren Nischenklub, bei dem es nicht gerade hektisch zugeht. Zeitgefühl ist zwar bekanntlich relativ – die Kieler und Wehlmann aber wollen in der ersten Liga nun ausreizen, was an Gelassenheit möglich ist. Der Klassenverbleib, klar, der ist schon das Ziel, sonst könnte man sich die Anmeldeformulare sparen. Auf unvernünftige Weise will man sich diesem Ziel allerdings nicht annähern. Kiels Haushaltsplan sieht eine Fortsetzung der wirtschaftlichen Vernunftpolitik vor, die Küstenstädter wollen sich einen Abstieg genauso leisten können wie ein weiteres Jahr erste Liga.

In der inoffiziellen Mannschaftsetat-Tabelle werden die Kieler den letzten Platz belegen. Aber wenn es allein danach ginge, hätten sie in der Vorsaison auch nicht in der echten Zweitligatabelle Platz zwei geschafft. Endlich, wie man aus Holstein-Sicht ergänzen muss: Die Kieler sind zwar noch kein Jahrzehnt im relevanten Profifußball dabei. In einem unheilvollen Drei-Jahres-Zyklus scheiterten sie allerdings bereits 2015 in der Zweitliga-Relegation sowie 2018 und 2021 in der Erstliga-Relegation. Gewisse Anspannung machte sich deshalb unter den Fans breit, als die Saison 23/24 auf die Zielgerade einbog. Es würde doch wohl nicht schon wieder schiefgehen?

Beruhigend dürfte da gewesen sein, dass sorgenvolle Blicke vom Trainer absorbiert werden konnten. Marcel Rapp ist wohl eines der strahlendsten Gesichter im deutschen Profifußball. Der 45-Jährige, geboren in Pforzheim, hat ein warmes Gemüt, das sofort auffällt im mitunter unterkühlten Norden. „Was ihn besonders macht“, sagt Wehlmann, „sind sein Charakter, seine positive Ausstrahlung, seine Energie.“ Der Sportchef ist überzeugt, dass „auch solche Elemente wichtig sind, um erfolgreich zu sein“ – ergänzend zu inhaltlicher Tiefenschärfe, versteht sich. Rapp vereint das alles in sich und bietet noch viel mehr. Denn in ihm materialisiert sich das häufig gegebene Versprechen von „Entwicklung“, das in dieser eiligen Branche nur selten eingelöst wird.

Trainer Marcel Rapp gilt in der Branche als „Bessermacher“

Bereits als Jugendcoach der TSG Hoffenheim eilte Rapp der Ruf eines exzellenten Bessermachers voraus, daran kann Wehlmann sich gut erinnern, aber das Besondere ist: Rapp ist es auch geblieben. Vor der Aufstiegssaison hatten die Kieler unter seiner Führung zwei eher mittelmäßige Tabellenplätze erreicht, doch diese Anlaufphase war wichtig, damit Team und Umfeld vollen Schwung entfalten konnten. Und nun segeln die „Störche“ in ganz anderen Dimensionen: Infrastrukturell wurden auch auf Rapps Betreiben hin Details optimiert, vor allem aber haben die Spieler mitunter Riesenschritte nach vorn gemacht. Defensivmann Patrick Erras wurde in Bremen einst für zu leicht befunden, Angreifer Fiete Arp wurde beim FC Bayern den Verheißungen nie gerecht, bei Mittelfeldmotor Lewis Holtby, 33, schien im Karriereherbst das Getriebe zu stottern – doch unter Rapp haben alle reichlich dazugelernt.

Fußballer, die besonders viele Schritte nach vorn machen, können ihren Verein aber auch mal überholen. Deshalb hat Kapitän Philipp Sander die Kieler gen Mönchengladbach verlassen, der in der Vorsaison von Borussia Dortmund ausgeliehene Tom Rothe ist jetzt bei Union Berlin angestellt. Beide waren so wichtig, dass sie kaum zu ersetzen sein werden, zumal die Kieler auf dem Transfermarkt weiterhin mit viel Augenmaß operieren. Für die Mittelfeldspieler Armin Gigovic und Magnus Knudsen wurden angeblich insgesamt 2,8 Millionen Euro an den russischen Erstligisten FK Rostow bezahlt, Stürmer Phil Harres kam für nur 200 000 Euro vom Regionalligisten FC 08 Homburg-Saar – wenn Geld wirklich Tore schießt, dürften die Kieler in arge Schwierigkeiten geraten.

Andererseits fühlen sie sich bei Holstein pudelwohl als Außenseiter, sie kennen das in der eigenen Nachbarschaft ja auch nicht anders. Im Schatten der Spitzenhandballer des THW blieb für die Fußballer lange wenig Aufmerksamkeit übrig, inzwischen traut sich Sportchef Wehlmann, Holstein als ein „weiteres Aushängeschild“ für die Landeshauptstadt Kiel zu bezeichnen. Ein Wurmloch haben sie hoch im Norden blöderweise noch nicht gefunden. Denn Holstein mag sich zwar in einer „rasanten Geschwindigkeit“ entwickelt haben, wie Wehlmann sagt – im Vergleich mit den meisten Bundesliga-Konkurrenten sei man trotzdem noch „20 bis 25 Jahre“ hinterher.

Wie sich das aufholen lässt? Erst mal gar nicht. Der Klassenverbleib würde aber langfristig sicher helfen.

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