Süddeutsche Zeitung

Bundesliga-Abstiegskampf:Werder will noch einmal Werder sein

Einst war Werder Bremen ein kleiner grüner Stachel im Fleisch der Bayern. Nun steht der Verein im Abstiegsfinale. Wie konnte es dazu kommen?

Von Ralf Wiegand, Bremen

Wieder einmal ging es um alles. Drei der letzten vier Spiele hatten die Fußballer von Werder Bremen verloren, acht Stammspieler fielen aus, der neunte verletzte sich nach sechs Minuten auf dem Platz. Er hieß Clemens Fritz. Der Gegner schien übermächtig, das Vorhaben aussichtslos - aber dann geschah das, was schon so oft in diesem kleinen, gallischen Dorf an der Weser passiert war. "In solchen Spielen rückt unsere Mannschaft zusammen, und wir haben uns aufgebäumt", sagte der Manager. Und der Abwehrchef stellte fest: "Wir verkraften alle Hiobsbotschaften." Werder hatte 3:2 gewonnen, die Hoffnung lebte weiter.

Gut acht Jahre ist das her. Der Manager, der diesen teambildenden Trotz seiner Mannschaft lobte, hieß Klaus Allofs, der Abwehrspieler, den nichts umwerfen konnte, Per Mertesacker. Unter den verletzten Stammspielern waren Diego, Torsten Frings, Naldo, Tim Wiese, Hugo Almeida und Tim Borowski, dessen Wechsel zum FC Bayern sich gerade anbahnte. Der Gegner, den Werder besiegt und sich so noch eine Chance auf die K.-o.-Runde der Champions League bewahrt hatte, war Real Madrid, mit van Nistelrooy und Raúl. Half ihnen nichts. Werder 3, Real 2.

Werder Bremen war zu jener Zeit der größte Kleine im deutschen Fußball. Wenn der frühere Manager Willi Lemke, Allofs' Vorgänger, auf der finanziellen Unterlegenheit seines Klubs herumritt wie Rumpelstilzchen auf dem Haufen Stroh, bevor der zu Gold wurde, stieg dem Bayern-Manager Uli Hoeneß die Zornesröte ins Gesicht. Als ob Geld in Bremen keine Rolle spiele; als ob dort oben im Norden die Profis mit Heringen bezahlt würden.

Werders Erfolgsgeschichte ist frisch, jung und lang

Was um Himmels willen ist nur passiert, dass das 1764. Bundesligaspiel von Werder an diesem Samstag zum Finale um den Klassenerhalt geworden ist? Dass, wenn sich alles gegen die Bremer verschwört, ihnen der direkte Abstieg droht? Dass nur ein Sieg gegen Frankfurt zwei unkalkulierbare Relegationsspiele gegen den 1. FC Nürnberg verhindern kann?

Tatsächlich war Werder bereits groß, als es durchaus schon ums Geld ging im Fußball. Der 1899 gegründete Sportverein gehört nicht zu jenen Traditionsklubs, deren letzter Titelgewinn 33 Jahre her ist wie beim HSV, deren letzte Meisterschaft fast 60 Jahre zurückliegt wie bei Schalke 04 oder der mal deutscher Rekordmeister war zu Zeiten des Mittelwelle-Radios wie der 1. FC Nürnberg. Auch der VfB Stuttgart, noch ein an Geschichte reicher Verein, der mit den Bremern und Frankfurtern nun gegen den Abstieg kämpft, gewann zuletzt 2007 eine Trophäe.

Werders Erfolgsgeschichte ist dagegen vergleichsweise frisch, jung und lang. In sechs von sieben Spielzeiten ab 2004 qualifizierte sich der Klub für die Champions League, zuletzt spielte er dort noch in der Saison 2010/11. Er gewann 2009 den DFB-Pokal, stand im selben Jahr im Endspiel um den Uefa-Cup und ein Jahr später, in einem letzten Aufflackern vergehender Größe, noch einmal im Berliner Cup-Endspiel.

Heute, einen Wimpernschlag später, ist Werder Bremen höchstens noch der kleinste Große. Der Klub ist Zweiter der ewigen Bundesliga-Tabelle, er hat die zweitmeisten Spiele aller dort aufgeführten 54 Vereine absolviert, die zweitmeisten Tore in der Liga-Geschichte geschossen und die zweitmeisten Siege errungen. Nur ein Verein hat den DFB-Pokal häufiger gewonnen.

Werder Bremen ist, statistisch gesehen, so etwas wie das zweitmeiste Bayern München. Und liegt heute trotzdem hinter Darmstadt, Augsburg, Ingolstadt. Wieso?

Bremen ist keine Stadt, die auf Rosen gebettet ist, nicht mal auf Tulpen. Eher auf Stiefmütterchen. Und die muss man mögen. Bremen ist nicht gerade die Stadt der großen Chancen, es ist die des kleinen Glücks. Das Glück, auf der richtigen Seite der Weser geboren zu sein (der rechten!); das Glück, sogar im Pisa-Notstandsland etwas in der Schule gelernt zu haben; das Glück, dass nach dem Kneipenbesuch das Fahrrad nicht geklaut ist; das Glück, mit einer Buddel Hemelinger in der Hand am Osterdeich zu hocken, zum Himmel zu schauen und keinen Regen zu sehen.

Und das Glück, Werder Bremen zu haben, den kleinen grünen Stachel im Fleisch der reichen Münchner und reich sein wollenden Hamburger.

Weil Bremen so hoch verschuldet ist

Bremer mögen ihre Stadt sehr, sie ist vergleichsweise günstig, sie hat herrliche Plätze, liegt am Wasser, ist weltoffen, tolerant und tatsächlich bescheiden. Anders als die Hamburger, deren Medien mindestens zweimal im Jahr Sonderausgaben über die schönste Stadt der Welt machen - ihre eigene - braucht der Bremer das nicht. Er weiß, was er an Bremen hat, er posaunt es nicht raus. Diejenigen, die es wegzieht, gehen nie so ganz, deswegen kennt der Sprachschatz hier die Binnen- und die Butenbremer. Bremer bleiben sie immer.

Wenn sich zum Beispiel in einer Düsseldorfer Kneipe Bayern-Fans zum Fußballschauen versammeln, so sind das Düsseldorfer, Dresdner oder Castrop-Rauxeler. Schaut man in München Werder-Spiele, und es gibt wirklich spezielle Orte dafür, trifft man fast nur Bremer. Vieles schweißt sie zusammen. Der Rest der Republik spricht dem kleinsten Bundesland, das Bremen zusammen mit Bremerhaven bildet, gerne mal das Existenzrecht ab. Weil es so strukturschwach ist. Weil es so hoch verschuldet ist. Weil es so links ist. Weil der "Tatort" oft so schlecht ist. Der Roland, das Symbol der Freiheitsliebe dieser Hansestädter, steht nicht ohne Grund seit mehr als 600 Jahren auf dem Marktplatz. Er wird wohl noch gebraucht.

Man sollte vorsichtig sein damit, einen Verein gleichzusetzen mit dem Lebensgefühl der Stadt, in der er zu Hause ist. Fußball ist Geschäft. Aber der SV Werder ist seinem Standort schon sehr ähnlich, er hat den Strukturwandel, das Werftensterben, den leeren Stadtsäckel, stets zu spüren bekommen. Werder hat sich nie größer machen wollen, als es war, es ist einfach über sich hinausgewachsen. Dafür steht die feste Redewendung über die "Wunder von der Weser" - Spiele, die man nicht gewinnen konnte. Das 6:2 gegen Moskau (nach 1:4 im Hinspiel); das 5:0 gegen Dynamo Berlin (0:3); das 4:0 gegen Lyon (0:3). Und das 5:3 gegen Anderlecht, Halbzeit 0:3.

Die gewitzten Gallier wussten sich zu wehren, und das ganze Dorf richtete sich daran auf.

Jene, die heute die Zukunft von Werder bauen, können mit dieser Nostalgie wenig anfangen. Der vorsitzende Geschäftsführer Klaus Filbry, ein studierter Sport-Ökonom, und Manager Thomas Eichin, ein fast asketischer Kaltblüter, waren noch nicht im Verein, als der die Fußball-Welt düpierte. Für sie ist das Geschichte fürs Wuseum, dem vereinseigenen Museum.

Fußball funktioniert jetzt anders. Längst würde der Verein einen Investor akzeptieren, die Signale kommen in immer kürzeren Abständen. Nur der Investor kommt nicht. Die Namensrechte am Weserstadion stünden zum Verkauf, wenn der Preis stimmt. Bisher stimmte er nicht. Und nach China musste die Mannschaft auch schon reisen, um auf dem asiatischen Markt vorzuspielen, wie Wolfsburg oder die Bayern. Werder ist in vielerlei Hinsicht ein normaler Bundesliga-Verein geworden. Business halt in einer Stadt, in der es das große Business aber nicht gibt.

Die Römer standen noch nie näher vor den Toren des gallischen Dorfs.

Die hanseatische DNA des Klubs, der seine Mitgliederversammlungen noch immer wie seit Jahr und Tag in der vereinseigenen Turnhalle abhält, in der sonst Tischtennis und Handball gespielt wird, verbietet zudem das ganz große Risiko. Der hanseatische Kaufmann hasst Schulden. Dort, wo etwa beim Hamburger SV eine rote Hundert steht - für 100 Millionen Euro Verbindlichkeiten -, steht bei der SV Werder Bremen GmbH & Co KG noch immer eine Null. Allerdings ist Werder über die Stadion GmbH zu 50 Prozent am Weserstadion beteiligt, die andere Hälfte gehört der Stadt. Auf der umgebauten Arena - einmalig gelegen im großen Bogen, den die Weser macht - lastet noch eine Restschuld von mehr als 60 Millionen Euro. Das bedeutet eben doch Zins und Tilgung.

Die goldenen Zeiten haben ihren Preis gekostet. Guten Fußball, sehr guten, wie ihn die Bremer lange spielten, gibt es auch hier nur gegen gutes Geld. Insofern hatte Uli Hoeneß schon recht. Und eine erfolgreiche Mannschaft ist ein sich selbst aufzehrendes System. Je mehr sie einspielt, umso mehr kostet sie. Die Kaderkosten aber bleiben hoch, auch wenn die Erfolge plötzlich ausbleiben. Auch die Infrastruktur, die für einen regelmäßig international spielenden Klub teurer ist als für einen Verein der unteren Tabellenhälfte, muss bezahlt werden, wenn der Klub stets mit seiner Rückkehr in den großen Fußball rechnet und nicht rechtzeitig schrumpft.

Doch die Fans bleiben Werder treu

Der sportliche Erfolg war die Haupteinnahmequelle der Bremer. Das unterschied ihn immer von den echten Großen der Branche. Das kleine Glück, ein großer Verein zu sein, war eben nur geliehen.

Nach der Saison 2010/11, der letzten in der Champions League, brach zudem das Bremer Trüffelschwein-System zusammen. Das Transfergeschick, das fantastische Spieler wie Johan Micoud, Andreas Herzog, Miroslav Klose, Mesut Özil, Ailton, sogar noch Kevin De Bruyne an die Weser spülte, verließ den Manager Allofs, bevor der Werder verließ. Die Realität änderte sich schneller als die Ansprüche. Statt früh zu akzeptieren, sich in einen Ausbildungsverein verwandeln zu müssen, suchte der Klub weiter nach Trüffeln. Er fand sie nicht. Wo Werder einst Ablösesummen kassierte, wurden nun Abfindungen fällig, um teure Fehleinkäufe wenigstens von der Gehaltsliste zu bekommen. Gleichzeitig stiegen die Berater-Honorare, in der falschen Hoffnung, sich Transfergeschick zukaufen zu können. Dabei übersahen die Bremer ihre Talente vor der eigenen Haustür wie etwa Julian Brandt, heute Leverkusen, oder im eigenen Verein wie Max Kruse (heute Wolfsburg) oder Dennis Diekmeier (heute HSV), der damals als hoffnungsvoller rechter Verteidiger galt.

Jahrelang hatte sich Werder aus der stillen Reserve, dem Wert der exzellenten Mannschaft, bedienen können. Die Verkäufe von Klose, Özil, Mertesacker oder Diego gehörten stets zu den ertragreichsten der jeweiligen Bundesliga-Saison. Nun fehlten diese Juwelen, das Eigenkapital, das noch Ende der Nuller-Jahre bei mehr als 40 Millionen Euro lag, schmolz ab auf zuletzt gerade noch gut zwei Millionen. Auch die Stadionfinanzierung war in den ertragreichen Europacup-Zeiten darauf ausgelegt worden, mindestens vier, fünf, Heimspiele im internationalen Geschäft zu bekommen. Die blieben dauerhaft aus. Werder zahlt, obwohl der Zuschauerschnitt in der Liga bei über 40 000 liegt, pro Saison einen deutlich siebenstelligen Betrag drauf. Geld, das für Transfers und Gehälter fehlt.

Was den Bremern aber geblieben ist, das ist die Treue des klugen Publikums. Zu keinem Zeitpunkt in den Jahren des kontinuierlichen Abstiegs hat es dem Verein die Gefolgschaft verweigert, nur ein einziges Mal kam es zu einer Bus-Blockade durch enttäuschte Fans - und um deren Sinn diskutierten sie danach wochenlang in den entsprechenden Foren. In jeder Schlussphase der meist heiklen, nie sorgenfreien Spielzeiten dachten sich die Zuschauer besondere Aktionen aus und halfen der Mannschaft bedingungslos über die letzten Hürden des mehr als einmal drohenden Abstiegs. Zuletzt schufen sie gegen den VfB Stuttgart an einem Montagabend eine Atmosphäre im Stadion, die es nicht einmal gab, als Maradona mit dem SSC Neapel hier vorspielte, José Mourinho mit dem FC Chelsea zu Gast war, oder Real.

Der Lohn war ein 6:2, wieder lebt die Hoffnung weiter.

Die Bremer haben offenbar schneller als ihr Verein verstanden, dass eben auch der Erfolg nur so ein kleines Glück war. Jahrelang hatte Werder das Selbstwertgefühl der Stiefmütterchenstadt gehoben. Jetzt sieht es so aus, als würde das Publikum dem sich verwandelnden Verein zeigen müssen, was es heißt, Werder Bremen zu sein. Wenn es an diesem Samstag noch einmal gelänge, wäre der Klassenerhalt eines deshalb nicht: ein Wunder.

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SZ vom 14.05.2016/ebc
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