Als feststand, dass der damals sehr große TSV 1860 München zum ersten Mal aus der Bundesliga absteigen würde, da warteten Berichterstatter noch gemeinsam mit der Mannschaft auf einen Zug. 1:2 hatten die Sechzger an einem Donnerstagabend beim MSV Duisburg verloren, weil sie zwischen der 80. und 83. Minute zwei Gegentore gefangen hatten. Der vorletzte Tabellenplatz in der Saison 1969/70 war ihnen damit sicher. Gleich danach ging es zurück per Bahn, umsteigen in Köln. SZ-Reporter Hannes Burger berichtete: "Während der einstündigen Wartezeit kommt wieder so viel Stimmung in die Mannschaft, dass einer ironisch meint: Der lustigste Absteiger, den es je gab!" Petar Radenkovic habe auf dem Bahnsteig 8a zusammen mit Wilfried Kohlars alle Trainer der vergangenen Monate parodiert. Da waren offenbar skurrile Typen dabei gewesen, denn die jungen Spieler hätten sich gebogen vor Lachen. Abgestiegen? Ja, mei.
11 000 Löwen-Anhänger reisten 1965 nach London - das war damals eine Sensation
Vier Tage später, am Sonntag den 3. Mai 1970, sahen am letzten Spieltag ganze 5000 Zuschauer im Stadion an der Grünwalder Straße ein deprimierendes 0:0 gegen Rot-Weiß Essen. Es ging hinunter in die zweitklassige Regionalliga Süd, und so richtig nach oben ging es für den Verein danach nur noch selten. Vor 50 Jahren endete damit eine kurze, aber spektakuläre Ära im deutschen Fußball. Die Ära des Radi und seiner Löwen.
Petar Radenkovic lebt heute in seiner Geburtsstadt Belgrad, in einer Wohnung im dritten Stock. Am Telefon spricht der 85-Jährige von einem schönen Zuhause, immerhin. Jammern oder lamentieren will er nicht, dabei sind die aktuellen Einschränkungen der serbischen Regierung wegen der Ausbreitung des Coronavirus erheblich. Wochenlang durften er und seine Frau das Haus nicht verlassen, den Senioren des Landes war jeglicher Aufenthalt in der Öffentlichkeit wegen der Ansteckungsgefahr verboten. Das Paar Radenkovic hielt sich damit fit, täglich drei Mal das Treppenhaus rauf und runter zu gehen. Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Gebrauchs besorgten Freunde und Verwandte. Inzwischen dürfen ältere Menschen zwischen 18 Uhr und 1 Uhr nachts einen halbstündigen Spaziergang unternehmen, bis zu 300 Meter rund um ihr Haus. Radenkovic spricht zurückhaltend von "einer Sondersituation". Die Irritation darüber ist ihm anzuhören.
Ein Anruf aus München ist da eine schöne Abwechslung. Mal wieder über die alten Zeiten reden, als ein Schritt vor die eigene Tür zwar nicht strafbar war, aber ebenso für Aufsehen sorgte. Denn Petar Radenkovic war einer der ersten großen Stars der Bundesliga, noch vor Beckenbauer, Müller oder Netzer. Wie bekannt dieser Mann einmal war, veranschaulicht eine Umfrage aus dem Jahr 1967 unter deutschen Kindern und Jugendlichen. Auf die Frage nach einem Vorbild wählten sie John F. Kennedy, Winnetou, Albert Schweitzer - und Petar Radenkovic. Der "Radi", wie ihn die Leute nannten, in Anspielung an den weißen Rettich, den die Münchner gerne im Biergarten essen. Ordentlich gesalzen, versteht sich. Der Beiname war wie geschaffen für diesen scharfen Typen aus Jugoslawien.
Mit Radenkovic im Tor erlebte der TSV 1860 einige wundersam erfolgreiche Jahre. Wenn er zurückblickt, spricht er über eine "Weltklassemannschaft". Peter Grosser, Rudi Brunnenmeier, Bernd Patzke, Otto Luttrop, Willi Kohlars, Manfred Wagner, Hans Rebele oder Timo Konietzka - keiner von ihnen kam in der Nationalmannschaft zur Geltung. Aber unter dem beinharten Trainer Max Merkel funktionierte diese begabte Truppe fabelhaft. 1963 gelang 1860 die Meisterschaft in der Oberliga Süd, wodurch der Verein anstatt des FC Bayern ein Startrecht für die neue Bundesliga erhielt. 1964 Pokalsieger, 1965 Endspiel im Europapokal gegen West Ham United. Zwar verloren die Münchner im Londoner Wembley-Stadion vor fast 100 000 Zuschauern 0:2, doch dass 11 000 Anhänger, zumeist über den Landweg und den Ärmelkanal, angereist waren, galt damals als Sensation.
Sie sahen eine denkwürdige Partie, ihre Elf wehrte sich lange gegen die favorisierten Gastgeber. Radenkovic hielt kolossal, die Tore fielen erst in den letzten zehn Minuten. Eine englische Zeitung schrieb: "100 000 Menschen zahlten 840 000 Mark, um dieses Spiel zu sehen, und niemals wurde ihnen mehr für ihr Geld geboten." Eine andere meinte: "München besitzt eine Mannschaft, auf die es stolz sein kann." Nach der Rückkehr jubelten Zehntausende zwischen Hauptbahnhof und Marienplatz den Verlierern zu. Wie ein Jahr später, als der TSV 1860 zum ersten und einzigen Mal Deutscher Meister war.
Fußball in München:"Wir haben hier nie Rambazamba gehabt"
Sie sind beim FC Bayern und TSV 1860 für die gute Laune zuständig - und dafür, dass die Stimmung nicht kippt. Die Stadionsprecher Stephan Lehmann und Stefan Schneider über die Macht des Wortes.
Radenkovic hatte den Status eines Stadtheiligen inne. Was auch an seinem Auftreten lag, auf und neben dem Platz. Er ließ sich von niemandem etwas vorschreiben, stürmte frech mit dem Ball am Fuß über die Mittellinie, während die Zuschauer grölten und den Mitspielern angst und bange wurde. Radenkovic war der erste Manuel Neuer der Fußball-Geschichte, aber in den sechziger Jahren galt diese Art des Torwartspiels als unerhörter Bruch der Konvention. Der Radi erfüllte damit aber die bayerische Sehnsucht nach Exzellenz und Freiheitsdrang. Mit seinen lustigen Sprüchen und dem verschmitzten Lausbubengesicht war er das Symbol des eigenwilligen, aber geselligen "Hundlings", der höchsten Anerkennungsstufe im Freistaat.
Am Telefon in Belgrad schwelgt Radenkovic ein wenig. Er sagt, es habe sich seither unwahrscheinlich viel geändert in der Gesellschaft und auch im Fußball. "Man hat nicht mehr den Spaß am Sport wie früher", klagt er. Mit den Mitspielern habe er sich einst häufiger getroffen zum Ausgehen, die Lebenslust durfte trotz des Profidaseins nicht leiden. Und auf dem Platz gelte Spielwitz nicht mehr viel, stattdessen dominiere die physische Stärke. Für Petar Radenkovic hat die Welt im Laufe der Jahrzehnte ihren Humor verloren.
1981 kandidierte Radenkovic für die Klubführung, doch die Mitglieder wählten Erich Riedl
Er dagegen stand im Zirkus Krone und hielt Schüsse eines Elefanten. Danach sang er sein Lied "Bin i Radi, bin i König", mit dem er im Juni 1965 in den Charts vor den Beatles mit ihrem Klassiker "Ticket to Ride" stand. Er verkaufte 400 000 Singles. Während einer Sommerpause ging er zusammen mit Roy Black auf Bayern-Tournee. Radenkovic war Fußball- und Popstar zugleich.
In der Saison 1966/67 lieferte der TSV 1860 dem Weltklub Real Madrid einen fulminanten Kampf, das Hinspiel gewannen die Münchner 1:0, auch im Rückspiel im Bernabéu führten sie, um noch 1:3 zu verlieren und auszuscheiden. In der Bundesliga kamen sie auf Platz zwei. Doch in dieser Saison führte eine Revolte der Spieler um Radenkovic zur Trennung von Trainer Merkel, danach ging es bergab. Die tolle Mannschaft war zu teuer, ein Spieler nach dem anderen verließ den Klub. Nach ein paar Hits fielen der TSV 1860 und sein Radi aus den Charts und außerhalb von München-Giesing hörte man nicht mehr viel von ihnen.
Zum Abschied erhielt Petar Radenkovic im Mai 1970 auf dem Spielfeld einen Nymphenburger Porzellanlöwen, den er heute noch besitzt. Danach wurde er ein erfolgreicher Gastronom und kritischer Beobachter seines TSV 1860. Dieser habe, sagt er, seit 50 Jahren fast nur falsche Entscheidungen getroffen. Als er zusammen mit einigen früheren Mitspielern 1981 für die Klubführung kandidierte, wählten die Mitglieder in einer hitzigen Versammlung den Gegenkandidaten Erich Riedl von der CSU - ein Jahr später wurde dem Verein vom DFB wegen Überschuldung die Lizenz entzogen. Sechzig landete in der dritten Liga, wo es auch heute wieder spielt. "Es ist eine Schande für den deutschen Fußball, dass so ein Traditionsverein so katastrophal dasteht", urteilt Radenkovic in seinem Belgrader Wohnzimmer.
Dabei hatte der große Torwart drei Spieltage vor dem Abstieg 1970 schon die Richtung vorgegeben, in einem Gastbeitrag in der Abendzeitung schrieb Petar Radenkovic: "Ich bitte unsere Freunde herzlich, die Mannschaft nicht im Stich zu lassen. Der Fußball rollt weiter. Wenn nicht in der Bundesliga, dann ist das schade, aber keine Tragödie. Sondern halt das Gesetz des Sports."