Bronze für einen Deutschen :Realistischer Träumer

Rio 2016 - Boxen

Der deutsche Halbweltergewichtler Artem Harutyunyan (r.) gewinnt die Bronze-Medaille in Rio.

(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Selten war ein Boxer nach einer Niederlage so gut gelaunt wie Artem Harutyunyan. Der Halbweltergewichtler gewinnt die Bronze-Medaille in Rio - und will in Hamburg weiterhin Flüchtlingen helfen.

Von Jürgen Schmieder, Rio de Janeiro/Los Angeles

Wer schon mal als Journalist einen Boxkampf besucht hat, der weiß, dass es dort ungeschriebene und doch allgemein gültige Regeln gibt: Der Sieger wird sogar von neutralen Berichterstattern eifrig beklatscht, er darf seine Mundwerkmuskeln anspannen und sich zum Allerbesten der Welt ausrufen. Der Unterlegene darf mit grimmigem Blick eine Ausrede für die Niederlage präsentieren und ein paar böse Worte gegen Referee und/oder Punktrichter loswerden. So läuft das, Ausnahmen gibt es nur wenige.

Es war deshalb verblüffend, was in Rio nach dem Halbfinale im Halbweltergewicht passierte: Der deutsche Boxer Artem Harutyunyan hatte den Kampf deutlich verloren gegen Lorenzo Sotomayor (Aserbaidschan), Neffe des einstigen Weltklasse-Hochspringers Javier Sotomayor. Harutyunyan bemühte jedoch keine Ausreden, sondern sagte präzise: "Er war leider ein bisschen zu groß für mich". Er hatte auch keine bösen Worte parat, sondern nur ein breites Grinsen: "Mein großer Traum von einer Medaille hat sich erfüllt. Ich gehöre jetzt zu den Besten der Welt. Ich bin überhaupt nicht traurig."

Harutyunyan, 26, hatte sich mit mutiger Kampfgestaltung und teils spektakulären Auftritten ins Halbfinale geboxt. Gegen den 13 Zentimeter größeren Gegner kam er jedoch nur selten in die Halbdistanz und konnte kaum klare Treffer anbringen. Sotomayor agierte clever aus der Distanz heraus und entschied alle drei Runden klar für sich. Weil es im Boxen keinen Kampf um Platz drei gibt, gewann Harutyunyan die Bronzemedaille - und durfte seine Geschichte erzählen.

Sechs Jahre lang lebte er in einem Container

Er kam als Säugling von Armenien nach Deutschland, sechs Jahre lang lebte seine Familie in einem Container, sein Vater trainierte ihn und Bruder Robert in der Kampfsportvariante Taekwondo - im Verein in Hamburg lernte er Boxen. "Ich weiß, wie es sich in einem Asylantenheim anfühlt", sagt Harutyunyan, der bis vor sechs Jahren von Hartz IV lebte und mittlerweile als Sportsoldat im Stützpunkt in Schwerin trainiert.

Er ist kein Lautsprecher, kein Müllredner. Er hat seinen Namen nicht eingedeutscht wie viele andere Kämpfer. Er heißt nicht griffig Felix Sturm oder Marco Huck oder Artur Abraham, er heißt weiterhin Artem Harutyunyan. "Ich weiß, wie es ist, wenn man in ein fremdes Land kommt. Ich weiß, wie sich die Flüchtlinge derzeit fühlen", sagt er: "Ich will etwas tun." Gemeinsam mit seinem Bruder organisiert er Trainingseinheiten für Jugendliche aus Syrien: "Ich möchte ihnen zeigen, dass der Boxsport einem helfen kann - und dass man sogar für sein Land eine Medaille holen kann."

Sein Land, das ist mittlerweile Deutschland. Er möchte im kommenden Jahr an der Amateur-Weltmeisterschaft in Hamburg teilnehmen und auch dort eine Medaille holen. "Gold ist nicht alles", sagt er: "Am Ende zählt nur, dass man glücklich ist mit sich." Dieser Boxer, der nach seiner Niederlage so herrlich sympathisch reagierte, scheint tatsächlich ziemlich glücklich mit sich zu sein.

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