Vielleicht muss man in so einem Moment auch mal den urdeutschen Drang ablegen, Inszenierungen im US-Sport affig zu finden. Und dann jede Bewegung zu analysieren und dauernd zu hinterfragen, ob ein Profisportler das viele Geld und die immense Aufmerksamkeit denn auch verdient hat. Es ist nun mal so, wie es ist in diesem Land: die Amerikaner feiern es als historischen Augenblick, wenn zum ersten Mal in der Geschichte der Basketballliga NBA ein Vater mit seinem Sohn aufs Parkett kommt, wie es LeBron James, 39, mit Filius Bronny, 20, am Dienstagabend in Los Angeles getan hat. Gegen Ende der ersten Halbzeit schickte Lakers-Trainer J.J. Reddick die beiden aufs Spielfeld, und das Volk jubelte, als hätte der Verein gerade seine 18. Meisterschaft gewonnen – so viele wie die Boston Celtics. Der Titelverteidiger hatte die neue NBA-Saison davor in eigener Halle, dieser Hinweis auf das restliche Geschehen sei erlaubt, mit einem 132:109 gegen die New York Knicks eröffnet.
„Bist du bereit?“, hatte James senior seinen Sohn kurz vor der Einwechslung auf der Ersatzbank der Lakers gefragt – und nach dessen Nicken ein paar Worte gesagt, die an jene von Franz Beckenbauer an die deutschen Nationalspieler vor dem WM-Finale 1990 erinnerten: „Spiel’ einfach unbeschwert, verschwende keinen Gedanken an mögliche Fehler. Geh’ raus und streng dich an.“ Der Sohn nickte, dann ging er raus und strengte sich an. Ein wenig mehr als zweieinhalb Minuten spielte er beim 110:103-Sieg der Lakers gegen die Minnesota Timberwolves; nach Zuspiel seines Vaters (16 Punkte) und dessen Aufforderung, er solle „ihn reinhauen“, warf er von jenseits der Dreipunktelinie daneben. Der ganz große Wohlfühlmoment fehlte also. Aber James junior sollte ja keine Gedanken an Fehler verschwenden, und das tat er auch nicht. „Ich werde nie vergessen, wie ich mit meinem Vater zum Tisch des Kampfgerichts gelaufen bin in Erwartung, dass es nun gleich passieren würde“, sagte er danach.
8 390 Punkte in der NBA:Ein Rekord, der LeBron James befreit
Vier Meisterschaften, zehn Finalteilnahmen, nun die meisten Punkte aller Spieler der Geschichte: LeBron James hat die NBA verändert. In seiner Karriere geht es längst nicht mehr nur um Basketball, sondern um ein Vermächtnis.
LeBron wiederum war zuvor schwer nostalgisch gestimmt. „Ich habe so viele Momente mit meinen Kindern verpasst, weil ich als Profi unterwegs gewesen bin“, hatte er vor der Partie in den Katakomben zu Reportern gesagt: „Ich werde jetzt zum 22. Mal in meiner Laufbahn am ersten Spieltag durch diesen Tunnel aufs Spielfeld laufen – ich weiß nicht, wie oft ich das noch tun werde. Es mit meinem Sohn zu tun und ihn im Trikot zu sehen, ist etwas Besonderes für mich – und auch, dass ich als sein Teamkamerad einige dieser verpassten Momente nachholen kann.“ Dann folgte ein Aber: „Er ist jetzt ein Mann. Es gibt nur 450 NBA-Profis, er muss sich das jeden Tag verdienen. Es macht mich stolz zu sehen, wie er erwachsen wird und mit dem Rummel umgeht.“
Ach ja: der Rummel.
Es hatte in der Geschichte der auf Fan-Unterhaltung ausgelegten Lakers nur einen Abend gegeben, bei dem der Hype um einen Spieler, der keinen Einfluss auf den Ausgang einer Spielzeit haben würde, noch größer war: April 2016, es stand bereits vor der letzten Partie der Saison fest, dass die Lakers die Hauptrunde mit der schlechtesten Bilanz ihrer Historie abschließen würden. Dennoch zahlten Fans Schwarzmarktpreise im vierstelligen Bereich, um den Karriereschlussakt von Kobe Bryant zu erleben. Der erzielte dann 60 Punkte – und 19 000 Anhänger einer ansonsten ernüchternden Mannschaft feierten, als hätten sie gerade den Titel gewonnen.
Andere NBA-Neulinge können sich im Schatten entwickeln - bei Bronny ist die Aufmerksamkeit sofort riesig
Natürlich verbietet es sich, die Lakers-Legende mit einem Neuling zu vergleichen, der zu Beginn der Nachwuchsliga G-League am 8. November wohl erst mal für die South Bay Lakers weitermachen wird. Da geht es auch um die Helligkeit der Scheinwerfer, die auf James junior gerichtet sind: Während sich andere Talente aus der zweiten Draft-Runde - Bronny wurde bei der Talentbörse an 55. Stelle seines Jahrgangs gewählt - im Schatten entwickeln dürfen, könnte das auf ihn gerichtete Licht greller kaum sein. Die einstigen Profis und heutigen Gurus Shaquille O’Neal, Charles Barkley und Kenny Smith fuhren nicht nach Boston, sondern kamen für eine Mega-Show vor der Halle nach LA; unter den Zuschauern: Ken Griffey senior und junior, das einzige Vater-Sohn-Gespann, das im Baseball gemeinsam für ein Team gespielt hat. „Das ist alles schon ziemlich verrückt“, sagte Bronny vor der Partie.
„Gut für die James-Familie, gut für die NBA – und gut für die Lakers, dass sie das alles hinter sich gebracht haben“, sagte O’Neal während der Halbzeitpause: „Jetzt kann sich Bronny darum kümmern, noch besser zu werden.“ Also, genug mit Inszenierung und Gedöns: Was kann er denn nun sportlich, dieser LeBron James junior? Nun, das lässt sich nach 161 Sekunden Einsatzzeit am ersten Spieltag nicht zweifelsfrei beurteilen. Wer jedoch Trainingseinheiten der Lakers in El Segundo sowie Vorbereitungsspiele verfolgt hat – im letzten schaffte der Junior 17 Punkte -, dürfte bemerkt haben: Dieser Junge spielt nicht wegen des historischen Moments für den Vater oder der Sehnsucht der derzeit mittelmäßigen Lakers nach einer Showtime-Story in der NBA, sondern weil er tatsächlich gut genug ist.
Wie gut? Da sollte man sich an einen Berichterstatter-Leitsatz erinnern, der entfernt auch an Beckenbauer erinnert: „Nun lassen wir ihn doch erst mal spielen.“